08.08.2007

Souls in the slums, slums in the souls

Wir fahren mit Freunden durch das Bergische Land, südlich von Wuppertal. Schräg vor mir sitzt Veronica Rondón aus Lima, und ich versuche, einmal durch ihre Augen die Landschaft zu betrachten. Durch die Augen seiner Freunde zu blicken macht Spaß, und es ist außerdem eine der vielen Techniken einer »Kultur des Herzens«. Was bekannt ist, wird zunächst fremd und dann schließlich auf eine neue Art und Weise wieder bekannt. Durch die Augen eines anderen zu sehen bedeutet auch: den anderen ein wenig besser kennenzulernen.
Veronica schaut aus dem Fenster und schweigt. Neben ihr, am Steuer, sitzt Warmolt Lameris, ein Architekt aus den Niederlanden. Auch er schweigt. Rechts von mir auf dem Rücksitz, ebenfalls schweigend, sitzt Vanda Perez Bessone, die in Argentinien aufgewachsen ist und mit siebzehn mit ihren Eltern nach Spanien auswanderte. In der Stille versuche ich durch die Augen Veronicas die Landschaft zu betrachten. Ich weiß, dass sie Schönheit liebt, denn vor kurzem sagte sie: »Ich glaube an die Bedeutung der Schönheit. Es ist, glaube ich, meine eigentliche Mission, Schönheit in die Armenviertel zu bringen.« Ich blicke durch das Fenster und versuche die Schönheit zu finden.
Schön sind das rhythmische Ansteigen und Absinken der Berge, die Art, wie sich die Straßen glatt und elegant durch die Täler schlängeln, wie sich der Waldsaum kurvig an den offenen Räumen der Weiden entlangzieht, die Wolken darüber weiß im Sonnenlicht erglänzen, mit dem Blau dazwischen, die grauen Dächer alter Scheunen, die das Licht glänzend widerspiegeln … Schön sind manchmal auch die Stellen zwischen den sorgfältig abgetrennten Grundstücken, auf die offenbar niemand wirklich achtet und wo manchmal ein vergessener Pflug im Gras vor sich hinrostet oder ein Baumstamm vermodert … Schön sind die Bäche, die plätschernd durch die Wiesen strömen, um dann dunkel in den scharfen Falten der Täler zu verschwinden …
Menschen scheint es hier nicht zu geben. Die Häuser stehen als getrennte Einheiten in der Landschaft verteilt, gerade noch weit genug voneinander entfernt, um nicht das Missverständnis hervorzurufen, dass sie möglicherweise etwas miteinander zu tun haben könnten. Neben den Häusern stehen glänzende Autos – der Beweis dafür, dass sich die Bewohner manchmal fortbewegen. Die Häuser selbst scheinen nicht an der Welt, die sie umgibt, interessiert zu sein, sie blicken vielmehr nach innen, auf das, was sich im Verborgenen abspielt. Sie sind, so könnte man sagen, behutsam implodierend. Am Ende des Nachmittags sind alle Rollläden geschlossen.
Jeder für sich und Gott gegen alle, denke ich.
Was sieht man hier im Bergischen Land, wenn man die Wirklichkeit von Pampas de San Juan in Lima kennt? Man sieht den perfekten Antipoden. Man sieht eine grüne und bewegliche Landschaft, die eine ständige lebendige Beziehung mit dem Himmel darüber unterhält. Man sieht Bäche und Weiden und Wälder. Man sieht gut unterhaltene Straßen, mit Verkehrsschildern, die einen auf alle möglichen Gefahren hinweisen. Man sieht Häuser, die keinerlei bauliche Mängel zeigen. Kurzum, man sieht eine »vollendete« Welt, die zwar die Natur noch als direkte Umgebung um sich hat, sich von ihr jedoch aus falscher Pietät abgewandt hat. Denn die Natur ist lediglich verwirrend. In dieser Welt hat alles seinen Ort erhalten und nichts Neues ist mehr zu erwarten. Die Menschen haben sich unsichtbar, unriechbar, unnahbar gemacht.
In Pampas ist die Landschaft dürr und trocken, eine Wüste. Grün sieht man dort kaum, Blau ebenfalls nicht. Der Himmel ist den größten Teil des Jahres über grau und geschlossen. Verkehrsschilder, die einen vor Gefahren warnen, gibt es dort nicht. Die tausend klapprigen Busse sind zum Bersten voll und sie bersten vor Leben. Die Gebäude in Pampas stehen Schulter an Schulter, sie unterstützen einander, sprechen miteinander, streiten miteinander. Aus den Fenstern erklingen Rufe, Musik – ja, vor allem Musik – und der Geruch frisch gekochter Kartoffeln (wenn es solche gibt) weht heraus. Auf den Straßen laufen Frauen mit bedeutenden Hüten und Männer ohne Hüte, Kinder, die spielen, singen, weinen und lachen. In Pampas sieht man Menschen, die alles Mögliche tun.
Oder sie tun nichts.
In Pampas ist nichts vollendet. In Pampas bleibt die Zukunft offen. In Pampas wird versucht, wegen des Nichts’ und aus dem Nichts, durch das Nichts hindurch alles zu tun, Schritt für Schritt, mit … nichts. In Pampas herrscht die Sehnsucht nach dem Unbestimmten vor.
Warmolt Lameris durchbricht die Stille, die im Auto herrscht. »Ich sehne mich nach Pampas«, sagt er, »nach dem Staub, den Benzingestank, der Musik.« – »Ja«, sagt Vanda Perez Bessone, »das verstehe ich. Denn dort findet man Seelen in den Slums und hier findet man Slums in den Seelen.«

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Tienen toda la razón!!!Es un gusto conocerle, Sr. van der Meulen!!!