28.09.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (1)

Seit ein paar Monaten habe ich wieder Kontakt mit einem Freund, den ich völlig aus den Augen verloren hatte. In den letzten dreißig Jahren haben wir uns nur einmal in Amsterdam getroffen – das war vor etwa zehn Jahren. Irgendwie hatten wir einander nach so vielen Jahren viel zu sagen, aber irgendwie auch wieder nicht. In mir gab bei diesem Wiedersehen in Amsterdam eine Kluft zwischen meinen Gefühlen und dem, was ich wollte. Die Gefühle waren warm, intim und vertraut, mein Wollen ging aber in eine andere Richtung – es war als ob mein alter Freund irgendwie nicht zu den Spuren passte, denen ich in meinem Leben nachgehen wollte. Jetzt, zehn Jahre später, sieht es in mir in Bezug auf meinen Freund ganz anders aus.

Vor dreißig Jahren waren wir richtig „befreundet“. Wir haben damals Musik gemacht, Songs und Gedichte geschrieben, über tausend Themen gesprochen, ja eben elektrische Gitarren gebaut. Wir hatten richtig etwas vor. Aus meiner Sicht würde ich sagen: Wir wollten die Welt erobern. Mein Freund war ein begnadeter Maler und Musiker – er konnte die Gitarre spielen wie ein Gott und auch noch richtig singen dazu. Ich war eher auf Wörter und Sprache orientiert: Dichtung, Philosophie und Journalismus. Ein Ding war irgendwie aber klar: Die Welt konnte mitkriegen, dass wir existierten!

Dann sind wir aber nach etwa fünf Jahren auseinander gegangen. Er ging seinen Weg und ich meinen. Der Grund? Ich weiß ihn immer noch nicht so genau. Es hatte aber schon damit zu tun, dass ich ein Wort-Mensch und er ein Klang-Mensch war. Ich habe jetzt aber das starke Bedürfnis, das damalige Auseinandergehen zu klären und zu verstehen. Es scheint so zu sein, dass unsere beiden „Sonderwege“ mir im Nachhinein etwas Wichtiges zu sagen haben – als ob wir in der Tiefe verschränkt sind, gerade aber in dieser „Verschränktheit“ eine Zweiheit erleben müssen, eine radikale Zweiheit bis zum Vergessen.

Vor zwei Monaten entdeckte ich im Internet eine Website von einer Rockband aus Culemborgh. Die Band nennt sich „Orange Red“ und einer der Bandmitglieder heißt Rob Rijksen. Ein Photo machte mir sofort deutlich, dass es dabei tatsächlich um meinen alten Freund Rob Rijksen ging. Auf dem Photo ist er zu sehen mit einer großen Bassgitarre und er schaut dunkel um sich herum, wie er das immer machte: Er schaute auf die Welt aus einer tiefen Dunkelheit heraus. Klar ist, dass er mit der Bassgitarre etwas bewegen möchte. Nur verlegen oder nur halbwegs die dicken Saiten berühren, kann die Sache nicht sein.

Ich war froh, als ich ihn da so sah. Rob war noch da! Und er machte noch immer Musik! Meine Freude war irgendwie uralt und auch funkelneu. Seitdem mache ich mir Gedanken über die Kraft der Freundschaft, weil mir meine Freude klar sagte: sie war noch immer da. Ich würde es jetzt, vielleicht ein bisschen abstrakt, so sagen: Rob und ich sind damals „aus einander hervorgegangen“. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.

Dass ich nach dreißig Jahren das Gefühl habe, es gibt etwas zu klären, ist nicht verwunderlich. Wie ist sein Sonderweg zu verstehen, wissend, dass es eine gegenseitige „Verschränkung“ gibt? Und wie ist mein Sonderweg zu verstehen? Und natürlich das Wichtigste: Was haben wir beide in unserem Leben aus der Verschränkung gemacht? Und was wollen wir weiterhin noch machen?

23.09.2007

Der Kölner Dom hat einen Ausweg gefunden

Immer wenn ich durch die Tür des Kölner Doms gehe, habe ich das Gefühl, dass ich mein Haupt neigen soll. Der Eingangsbereich ist so gestaltet, dass ich für einen Moment vergesse, dass das Gebäude weit weit weit über mich hinausragt. Ich fühle mich in die Enge getrieben, als ob mir erst klar gemacht werden soll, dass ich ganz ganz ganz klein bin. Auch heute sitzt neben der Tür ein Bettler. Und unwillkürlich kommt in mir die alte alte alte Frage wieder hoch: Bin ich in geistigen Angelegenheiten nicht eigentlich ein Bettler?

Wenn ich dann weiter hineingehe und im „Vorhof“ stehe, komme ich mir wieder „normal“ vor. Ich bin ja ein Besucher, wie Hunderte andere Besucher auch. Das Einzige was mich noch davon zurückhält, einfach zügig weiterzugehen, ist die Dunkelheit. Der Vorhof erlaubt mir zwar mein Haupt wieder zu heben, umschließt mich aber mit einem Halbdunkel, das eine gewisse Vorsicht erzeugt. Richtig losgehen, geht noch nicht. Das Halbdunkel ist irgendwie genau passend: Ich sehe schon den Flur, auf dem ich gehen kann – dass er aber aus festen quadratischen Fliesen besteht, bleibt verborgen. Der Vorhof macht also ein klares Statement: Um hier zu gehen braucht man Vertrauen.

Nach zehn Schritten öffnet sich auf einmal die Kathedrale in ihrer gewaltigen Größe. Weit über mich hinaus bilden die riesigen Säulen, Wände und Gewölbe einen Innenraum – wie eine statische Explosion. Ich fühle mich wie verdoppelt: Hier bin ich ganz unten, aber ich bin genauso da oben. Wenn ich mein Haupt in meinen Nacken lege und empor schaue, scheint es mir, als ob ich mir von da oben entgegenkomme. In der Vertikalität scheint es eine Illusion zu sein, dass ich hier unten stehe und nach oben schaue. Die Welt dreht sich um und ich schaue auf mich von oben nach unten. Und der Gedanke, dass ich ein Besucher bin, wie Hunderte andere Besucher auch, verschwindet. Nein, gerade ich bin gemeint. Ich bin DER Besucher. Und ich soll in meinem Leben etwas mit der Tatsache machen, dass ich DER Besucher bin.

Dann schaue ich horizontal in die Ferne. Ganz weit weit weit weg an der anderen Seite der Kathedrale, sehe ich einen glänzenden Punkt aus Gold. Es ist mir schon lange bekannt, dass es sich dabei um den goldenen Schrein handelt, indem die Gebeine der drei Könige (eigentlich Magier) aufbewahrt werden. Der goldene Schrein macht den „historischen Inhalt“ des Doms aus; ohne diesen abgeschlossenen Schrein gäbe es keinen Innenraum. Und sofort möchte ich dahin, um nochmals nochmals nochmals das Gold zu sehen und mir innerlich die Gebeine vorzustellen. (So ist das: Der Inhalt des strahlenden Schreins ist tot tot tot.)

In der Mitte der Kathedrale angekommen, schaue ich nach rechts zu dem großen Südportal. Ich blicke auf und sehe das neue schillernde Glasfenster, mehr als hundert Quadratmeter groß. Ich habe in den letzten Wochen viel in den Kölner Zeitungen über das Glasfenster gelesen. Und ich bin mit den meisten Kölnern einverstanden: Das neue Fenster ist großartig. Und ich bin mit meinem Freund Sebastian Gronbach einverstanden, dass der Dom mit dem neuen Fenster „im 21. Jahrhundert angekommen“ ist. (Lest bitte Gronbachs Kolumne über das Fenster: www.info3.de/wordpress/?p=119 ).

Was ist im Fenster zu sehen? Ich meine, das neue Fenster bietet einen Ausweg aus dem Innenraum des Doms. Oder anders gesagt: Die Tausenden kleinen farbigen Quadrate holen den großen Außenraum-da-draußen in den Innenraum des Doms rein und zwar ohne mit dem großen Außenraum-da-draußen den Innenraum bestimmen zu wollen. Auf einmal hat der Dom eine Öffnung gefunden, ein nicht-bildliches Bild (in der Kunst spricht man von „abstrakt“), das so intensiv mit dem großen Singen-da-draußen mit singt, so dass es klar und frei im Innenraum hörbar wird.
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

15.09.2007

Die Art von Ute Wagner - Zavaglia

Auf ihren Knien liegt ein großes Notizbuch mit vollgeschriebenen Blättern. Und ihre langen Finger liegen auf diesen vollgeschriebenen Blättern – wie zarte Fühler. Man könnte meinen, sie liest mit ihren Fingern wie ein Blinder. So ist es aber nicht. Sie scheint mit dem behutsamen Berühren der Blätter die Vergangenheit wieder tastbar machen zu wollen.
Ute liest mit ihren Augen, aber so, dass ihre Augen genau so aufmerksam auch bei uns sind, den dreißig Zuhörern. Der Vorgang ist präzise. Sie liest still und ruhig ein paar Sätze von den vollgeschriebenen Blättern, hält inne und schaut in sich auf das, was sie gelesen hat, blickt genau so ruhig in die Runde, liest in unseren Gesichtern, spürt nach, was in der andachtsvollen Stille lebt und erzählt dann weiter. Ihre Worte scheinen kleine farbige Herbstblätter zu sein, die von einem leisen Wind getragen werden.
Ute erzählt von Kevin, einem fünfjährigen Jungen, den sie vor einem Jahr kennengelernt hat. Und durch ihre schlichten Worte ist Kevin bald bei uns im Raum. Er ist klein, hat rote Haare und große braune Augen, trägt eine Jacke und Hosen, die zu groß sind. Mit seinen Augen saugt er die Welt auf. Kevin scheint lauter Staunen zu sein und stellt hundert Fragen. Um sich nicht in seinem Staunen zu verlieren, hält er mit einer Hand die Jacke seiner Mutter fest, die hinter ihm steht.
Kevin hat ein Problem. Er ist nämlich „ein Feuerwerk an Energie“. (Nein, diese Worte sind nicht spektakulär gemeint. In Utes Mund klingen sie eher sanft und sachlich.) Kevin ringt mit seiner Begeisterung, die ihn manchmal mitreißen kann. Wenn er das Feuer in sich nicht halten kann, kocht seine Seele über den Rand seines Körpers hinaus. Was er dann macht? Nun ja, was macht man dann? Kevin wird dann auf einmal „hyperaktiv“ und ist nicht mehr zu stoppen. Er will dann eigentlich fliegen, was aber leider nicht geht. Oder er will auf einmal alles anfassen, alles untersuchen, alles wissen, alles prüfen. Er ist dann, wie man so schön sagt, „aus seinem Häuschen“.
„Kevin ist innig mit den Dingen verbunden“, sagt Ute.
Ute erzählt vierzig Minuten lang. Erst über Kevins „Biographie“, die noch ganz kurz ist. In dieser noch ganz kurzen „Biographie“ tauchen aber ein paar ernsthafte Probleme auf. Ute erzählt von den ersten Jahren, von den Eltern und von den Menschen um Kevin herum. Und es scheint, als ob das Leben sich um Kevin herum so einrichten will, dass er keinen Halt findet, keine Stützpunkte geboten bekommt und dass ihm keine Grenzen gegönnt werden. Dasjenige, wovon Kevin in den ersten Jahren seines Lebens getragen werden soll, scheint wackelig und voller Löcher zu sein. Und am Ende erzählt Ute von seiner Geburt. Er schaffte es nicht alleine und ohne ärztliche Hilfe durch die Enge zu gehen. Die Enge war zu eng und seine Begeisterung-zum-Leben zu groß.
Während Ute erzählt, ändert sich langsam und unbemerkt der Raum, worin wir uns befinden. Für unsere Augen bleibt der Raum irgendwie noch immer quadratisch, so wie Räume eben quadratisch sind. Mein Empfinden sagt aber, dass wir längst nicht mehr in einem quadratischen Raum sind. Der Raum ist rund geworden. Und in diesem runden Raum scheint ein zartes und fühlsames Licht, ich würde sagen: ein Herbstlicht, das nicht nur scheint und sichtbar macht, sondern auch leise berührt und bewegt – ich spüre das Licht fast auf meiner Haut. In diesem Licht scheint nichts spektakulär zu sein, alles aber bemerkenswert und liebenswürdig.
Die dreißig Zuhörer sehen einander auf einmal in einem anderen Licht.

(Ute Wagner-Zavaglia ist Mitarbeiterin des Janusz Korczak Institut in Nürtingen. Der Name von „Kevin“ ist geändert. Mit dank an Birgitt Kähler.)