28.12.2007

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (2) Gespenster

In sozialen Traumlandschaften gehen Gespenster herum. Auch in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es welche. Es geht dabei um Vorstellungen, die auf irgendeiner Art und Weise an den in meinem vorigen Blog beschriebenen Positionen festgemacht werden. So gibt es das Gespenst des Vorstandsmitgliedes eines Kindergartens, meistens ein junger Mann, der von Anthroposophie „keine Ahnung“ hat und versucht, den Laden „vernünftig“, d.h. „ahrimanisch“ zu verwalten. Dazu kommt das Gespenst des „orthodoxen“ Anthroposophen, der von „Reform“ nichts hören will, und an bereits Gesagtem festhält.

Dann gibt es die überforderte junge Erzieherin. Sie hat zwar ein bisschen Ahnung von Anthroposophie, schafft es aber nicht, ein eigenständiges und kreatives Verhältnis dazu zu entwickeln. Die Eltern haben leider „gar keine Ahnung von Anthroposophie“, müssen aber keine Ahnung haben – die Waldorfkindergärten sind ja für alle Kinder gemeint – sind aber oft ärgerlich ignorant. Zum Schluss muss hier der Funktionär der Vereinigung erwähnt werden, der in seinem dicken Auto anreist, links und rechts gute Ratschläge erteilt und Protokolle schreibt.

Das Spiel der Gespenster ist umnachtet. Um die Gemeinschaft der Waldorfkindergärten herum gibt es die sogenannte öffentliche Gesellschaft, die weiterhin als eine Bedrohung verstanden wird. Pisa, Kibitz und Sprachstandsverfahren sind nicht nur untaugliche politische oder pädagogische Instrumente (was sie aus meiner Sicht klar sind), sie kriegen in der Welt der Gespenster etwas Dämonisches. Sie werfen große Schatten und machen die Gespenster fast unsichtbar. Wie das öfters mit Dämonen ist: Sie werden für die Unzulänglichkeiten in der Gemeinschaft der Gespenster verantwortlich gemacht.

Es gibt in der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten nicht nur Gespenster, wie es in der öffentlichen Gesellschaft nicht nur Dämonen gibt. Es gibt in der Gemeinschaft vor allen Dingen Menschen, die unbedingt ein bewusstes Verhältnis zu den Gespenster finden müssen. Die Gespenster sind in dieser Hinsicht nur zu verstehen als hilfreiche Erscheinungen in sozialen Traumlandschaften; sie sind hilfreich, weil sie klipp und klar zeigen können, wo es welche Nöte gibt. Gespenster verneinen oder totschweigen, bringt nichts – sie arbeiten dann einfach ungestört weiter. Gespenster angreifen hilft auch nicht – sie werden dadurch nur stärker.

In einer Kultur des Herzens werden Gespenster als Kreaturen verstanden, die sich in Bezug auf ganz bestimmte Nöte gut auskennen. Gespenster haben Nöte geschluckt, weil sie Nahrung brauchen. Gespenster haben Nöte bis zur Vergessenheit verinnerlicht. Und weil sie von unseren Nöte leben, die wir aber nicht als Nöte verstehen, und weil die Gespenster außerdem nicht glauben, dass wir bereit sind, die Nöte auch wirklich als Nöte zu akzeptieren und anzuerkennen, bleiben die Gespenster sicherheitshalber im Dunkel. Umgekehrt glauben wir nicht, dass die Gespenster bereit sind, sich zu öffnen, gerade weil sie Nahrung brauchen. Zwischen uns und unseren Gespenstern existiert ein klassischer Vertrauensbruch.

In einer Kultur des Herzens werden Gespenster zum Gespräch eingeladen. Wie geht das? Die üblichen Rituale in Vorstandssitzungen, Teambesprechungen und Elterntreffen reichen nicht aus, oder besser gesagt, wirken in Bezug auf die Gespenster eher ausladend. Das Top 1 - Top 2 - Top 3 – plus – Protokoll – Schema erzeugt nicht nur eine scharfe Trennung zwischen dem was relevant und irrelevant wäre, sondern auch zwischen Licht und Dunkel. Was dunkel ist, bleibt draußen vor der Tür. Die Frage ist: Wie führt man Gespräche in Traumlandschaften?

Mit Gespenstern ins Gespräch zu kommen, ist eine Kunst. Auf der Ebene einer größeren Traumgemeinschaft, wo die Verbindungen meistens anonym sind, gilt es vor allem, nicht nur funktionell zu kommunizieren. Gespenster gedeihen in einem Klima, wo das verbale Hin und Her (oder leider oft nur das „Hin“) auf die sachliche Ebene reduziert wird. Dringend notwendig ist eine Kultur, in der Personen hinter den Positionen zum Vorschein kommen und in der (relativen) Öffentlichkeit sichtbar werden. Gerade persönliche Anliegen & Verletzungen & Hoffnungen & Träume & Unsicherheiten & Grollen & Wünsche & Vorsätze könnten ins Spiel gebracht werden.

Dabei braucht es aber nicht zu bleiben. Wenn sogenannte „subjektive“ Wahrnehmungen & Empfindungen & Erlebnisse sichtbar sind, können sie angeschaut und „objektiviert“ werden. (So ist das: Der zweite Schritt der Objektivierung kann erst fruchtbar vollzogen werden, wenn der erste Schritt der Subjektivierung stattgefunden hat. Den ersten Schritt zu unterdrücken, zum Beispiel dadurch, dass er nicht für „geistig“ gehalten wird, führt zu einer sozialen Lähmung.)

Es gibt in der Gemeinschaft der Kindergärten zwei „Spielfelder“, in denen das Gespräch mit den Gespenstern geübt werden kann: in den unterschiedlichen regionalen und überregionalen Treffen, und in der schriftlichen Form der Kommunikation. Mir scheint es eine Herausforderung zu sein, für beide Spielfelder neue Spielregeln zu finden. (Fortsetzung folgt)
(Mit dank an Birgitt Kähler)

21.12.2007

Über die Waldorfkindergärten in Deutschland (1) Ereignisse

In der Waldorfkindergartenbewegung in Deutschland stehen zumindest drei grundlegende Fragen an. Die erste Frage betrifft die Grundidee des Kindergartens selbst. Aus welchen Gründen meinen wir, dass es Kindergärten geben soll? Und wie sollen sie aussehen? Die zweite Frage betrifft die Vorstellungen, die wir davon haben, was ein Kind eigentlich ist. Wenn wir meinen, dass es dieses wunderbare Wesen wirklich gibt (d.h. keine soziale „Konstruktion“ ist), was macht dann sein Wesen aus?

Und die dritte Frage bezieht sich auf die Bedeutung der Anthroposophie im Leben und Arbeiten in und um den Waldorfkindergarten. Wenn die Anthroposophie kein ideologischer Lieferant von pädagogischen Methoden & Rezepten ist, welche Bedeutung hätte sie dann? Klar müsste sein, dass diese drei Fragen – besser wäre vielleicht zu sagen: diese drei Untersuchungsfelder – eng miteinander verknüpft sind. An dieser Stelle gilt, dass man sich nicht in dem einen Untersuchungsfeld bewegen kann, ohne ständig auf die zwei anderen Bezug zu nehmen..

Über die zweite und die dritte Frage könnte gesagt werden, dass Rudolf Steiner sie schon beantwortet hat. Das stimmt durchaus, reicht allerdings nicht mehr aus. Erstens sind Antworten immer Aussagen unter bestimmten Umständen – und seit dem Tod Rudolf Steiners im Jahr 1925 hat sich viel verändert. Zweitens geht es gar nicht mehr um die Frage, was Rudolf Steiner damals gemeint hat. Die heutige Lebenspraxis wird dadurch bestimmt, was Menschen heute denken, fühlen und vor allem wollen. Und was die erste Frage angeht: Rudolf Steiner hat sich einfach nie mit der Einrichtung eines Kindergartens beschäftigt. Die Bewegung der Waldorfkindergärten ist erst nach seinem Tod entstanden.

Eine Falle wäre, sofort in die drei genannten Untersuchungsfelder einzusteigen und klare Statements abzugeben. Das wird hier und da getan, bringt aber nichts. Mir scheint nämlich, dass die drei Fragen eine Vierte hervorrufen, die eigentlich nie gestellt wird. Gerade diese Frage müsste ins Zentrum des Denkens gerückt werden. Die Frage lautet: Was sagt uns die Tatsache, dass die drei Fragen zu einer träumenden Gemeinschaft gehören? Oder anders gesagt: Wie wäre zu erreichen, dass diese Gemeinschaft von Menschen, die mit dem Impuls der Waldorfpädagogik verbunden sind, in Bezug auf die Fragen wach wird? Oder noch anders gesagt: Wie könnte in dieser Gemeinschaft wirklich ein Diskurs entstehen?

Hinter dieser Frage steckt ein klares Urteil. Die eigentliche Krise der Waldorfkindergärten liegt darin, dass leider von einer wachen Gemeinschaft nicht gesprochen werden kann. Dieser Umstand wäre auf unterschiedlicher Art und Weise zu beschreiben – heute versuche ich es folgendermaßen. Wenn man auf die unterschiedlichen „Positionen“ in der Waldorfkindergartenbewegung schaut, fallen ein paar Probleme auf. Mit Positionen meine ich hier: Man ist ein „Elternteil“ (excusez le mot, man müsste eigentlich sagen: ein Vater oder eine Mutter), ein Kind, eine Erzieherin, eine Kindergartenleiterin, ein Vorstandsmitglied, ein Funktionär der Internationalen Kindergartenvereinigung oder ein wohlwollender Unterstützer. (Für mich gilt, dass ich ein Funktionär bin. Ich bin in der Leitung des Seminars für Waldorfpädagogik in Köln tätig, und Mitglied des Verantwortungskreises der Internationalen Kindergartenvereinung in NRW.

Die lange und reiche Vergangenheit der Waldorfkindergartenbewegung hat dazu geführt, dass eine formale Welt von Positionen und dementsprechend mit scheinbaren Verantwortungen entstanden ist. Diese Verantwortungen sind aber losgelöst vom wirklichen Leben. Das heißt, dass Entscheidungen zwar formal getroffen werden können, in der Lebenspraxis aber nur von ganz Wenigen getragen werden. Egal, ob man auf die internationale Kindergartenvereinigung bundesweit, auf die Kindergartenvereinigung in beispielsweise NRW oder auf die einzelnen Kindergärten schaut, grundlegende Entscheidungen haben nie die Bedeutung, die sie haben müssen um wirklich Entscheidung zu sein, nämlich die Bedeutung eines Ereignisses.

In der Gemeinschaft der Waldorfkindergärten gibt es keine Ereignisse mehr. Was ist ein Ereignis in einer Gemeinschaft? Ereignisse erzeugen Geschichte. Ereignisse gestalten die Biographie der Gemeinschaft. Das geht aber nicht von alleine. Mit Ereignissen ist es halt so, dass sie erst dann auch wirklich Ereignisse sind, wenn sie als Ereignis wahrgenommen und erlebt werden. Ereignisse die nicht gemeinsam wahrgenommen & erlebt & bewertet & integriert werden, sind kollektive Träume. Sie bleiben wie Schatten an der Wand. Sie bestimmen zwar eindringlich die Gefühle – und über die Gefühle auch die Gedanken und Taten – der Mitglieder der Gemeinschaft, sie erreichen aber nie die Transparenz, die als Bedingung für freie Entscheidungen notwendig ist. Erst wenn eine Gemeinschaft um gedankliche Transparenz ringt, d.h. einen aktiven und wachen Diskurs führt, entsteht ein gemeinsames Erleben von Ereignissen. (Fortsetzung folgt)
(Mit Dank an Birgitt Kähler)

14.12.2007

Mani heute. "Stand up to be discontinued"

Stuttgart, den 6. Dezember. Roland van Vliet steht auf der Bühne im Saal von Forum3. Er redet. Ich schaue ihn an und komme an drei Phänomene nicht vorbei. Das erste ist seine riesige Gestalt. Nur weil ich Roland zu meinen Freunden rechne, darf ich schreiben, dass er physisch enorm ist. Sein Bauch ist groß, sein Kopf ist groß und seine Gebärden sind groß. Und weil seine Haare richtig lang sind – nein, wegen seinem vornehmen dreiteiligen Anzug sieht er gerade nicht wie ein Sechziger aus – wirkt das Ganze imposant. Irgendwie meint man, dass sich in seinem Körper alles Mögliche zusammengefunden hat, um strahlend & unausweichlich präsent zu sein.

Das zweite Phänomen betrifft sein Denken. Sein Denken ist groß & weit & gewichtig. Seine Gedanken haben Gewicht. Als er etwas über Nietzsche und Foucault sagt, spürt man ein Kilo Philosophie – ein Kilo, das übrigens trotz seines Gewichts frei & schwebend bleibt. So denkt Roland van Vliet: Er nimmt gewichtige Gedanken zwischen seine Arme und bewegt sie mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, als ob er ein Tänzer wäre mit einer Partnerin, die er mühelos hin und her bewegt. Alle wunderbaren Seiten der Partnerin werden uns gezeigt. Und müde scheint Roland nicht so werden – ganz am Ende schwitzt er nur ein bisschen.

Dann aber das dritte Phänomen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was der richtige Begriff dafür ist. Wirkt er charmant? Ja. Wirkt er liebevoll? Ja. Wirkt er empathisch? Durchaus. Ich würde es vorläufig so beschreiben: Er scheint eine Innenwelt zu haben, die sich weit über seinen Bauch und seine breiten Gebärden bis an die Hinterwand des Saals ausbreitet und den Zuhörern einen „Verbleib“ bietet, wo Wärme & Licht herrschen. Ich fühle mich in diesem Innenraum nicht nur „aufgehoben“, sondern auch zu mir geführt. Irgendwie scheint es mir so zu sein, als ob Roland ein jungfräuliches Lächeln verbreitet, das einen milden Riss in der harten Wirklichkeit verursacht.

Das Thema in Stuttgart ist der Manichäismus. Anlässlich des Erscheinens eines Buches von Roland über Manichäismus[i] sind etwa hundertfünfzig Leute aus Deutschland, Schweden, der Schweiz, Belgien und Holland zusammengekommen. Als Erster spricht Professor Alois van Tongerloo aus Leuven. Am Ende seines Vortrages erzählt er von den Namen der Hauptfiguren in der Gralsgeschichte. Als er den Namen „Parzival“ behandelt und die Bedeutung dessen beschreibt, klingt bisher Ungesagtes. Van Tongerloo meint, dass der Name Parzival nichts anderes bedeutet als: „Der das Umherschweifende erleidet in einer nicht koordinierten Bewegung“.

Dann bin ich dran. Ich hatte geplant, mit einem Zitat von Captain Beefheart anzufangen, nämlich: „Stand up to be discontinued“ – und ich mache das auch. Ich stelle aber fest, dass Beefhearts Aussage unerwartet eingebettet ist in der Übersetzung des Namens Parzival. Hatte die Aussage Beefhearts für mich schon eine Aura, so findet sie noch eine zweite nach innen gerichtete Strahlung in der neuen Bedeutung des Namens Parzival. Und ich denke: Wie kann es wahr sein, dass heute in Stuttgart diese beiden Sätze ungeplant (nicht koordiniert) zusammenkommen? Und ich merke, dass durch dieses Zusammenkommen das Umherschweifende greifbar wird.

Als Roland als Letzter auf der Bühne erscheint, kriegt das Umherschweifende eine Gestalt. Er lässt seinen geplanten Vortrag sein was er ist, (nämlich ein geplanter Vortrag), und reagiert spontan auf das, was Alois van Tongerloo und ich gesagt haben. Er spricht von der „ungeteilten Aufmerksamkeit“ – d.h. von der Fähigkeit, sich im wachen Bewusstsein mit den Dingen & Worten & Menschen & Gedanken & Gefühlen & Taten zu verschmelzen. Und er redet von Einheit und Verschiedenheit – ein Thema, das schon Plato sehr beschäftigt hat. Wo findet man die Einheit in der Vielfalt? Und umgekehrt natürlich genau so: Wo findet man die Vielfalt in der Einheit? Wenn ich Roland gut verstehe, meint er, dass wir die Einheit finden in dem Akt – was ja ein Ereignis ist – der Verschmelzung im wachen Bewusstsein. Das Bewusstsein ist die Stelle, wo die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt nicht nur erlebt, sondern vor allem erst kreiert und dann wieder aufgehoben wird.

Das Treffen in Stuttgart war ein Ereignis und ich empfehle, das Buch von Roland zu lesen.

[i] Roland van Vliet, Der Manichäismus. Geschichte und Zukunft einer frühchristlichen Kirche, Urachhaus, 2007

03.12.2007

Der Beamte und Maler Janssen aus 1850

Frau Janssen führt uns über die breiten Treppen in ihr vornehmes Haus in Aachen. Unsere Stimmen klingen ein wenig hohl. Weil wir mit einer ganzen Truppe aus dem Kinderhaus „Kahlgrachtmühle“ zu ihr gefahren sind, schaffen wir es aber ohne Mühe das große Treppenhaus mit diskontinuierlichem Leben zu füllen. Frau Janssen bleibt ruhig. Das Haus bleibt auch ruhig. Die Statuen, die Möbel und die Teppiche ruhen in einer Zeit, die schon längst vorbei ist. Und wenn Björn und Marina aus Neugier verbotene Türen ausprobieren wollen, greift Frau Janssen ruhig ein. In diesem Haus herrscht noch feine Aristokratie.

Das Ziel unseres Besuches steht improvisorisch aufgestellt auf einem uralten Sofa, das wahrscheinlich sonst nie benutzt wird. Es betrifft ein Gemälde nach holländischer Art, hundertfünfzig Jahre alt. Frau Janssen heißt ja Janssen, weil ihre Familie aus der holländischen „Zelfkant“ stammt. Frau Janssen ist die Urenkelin eines Aachener Beamten, eines Herrn Janssen, der damals „nicht viel zu tun hatte und deswegen Zeit übrig hatte um zu malen“. Etwa 1850 ist der Maler auch mal an der Kahlgrachtmühle vorbei gekommen, hat sich dort hingestellt und sich über die Landschaft gefreut, die sich über die Dächer der Mühle in der Richtung nach Aachen offen und frei entfaltet.

Das Gemälde ist entzückend. Der Maler Janssen muss ein frischer, fantasievoller und liebender Beamte gewesen sein. Einerseits öffnet das Bild einen weiten Raum. Es übermittelt das Gefühl, dass die ganze Welt bereitwillig zu deinen Füßen liegt. Die Landschaft ist da, um herzlich betreten zu werden; die Welt ist da, um die Freiheit zu genießen. Andererseits zeigt das Bild wunderbare Details, die man leicht übersieht (wenn man sich, anders als die Janssens, die Zeit und die Ruhe nicht nimmt). Es gibt meditierende Störche, einen Mann, der gehetzt einen Esel forttreibt, Bauern, die entspannt Äpfel pflücken, eine Frau, die mit einem Kind unterwegs ist, die Spiegelung der Häuser in einem Teich, Rauch, der kerzengerade aus einem Schornstein steigt... Der Maler Janssen hat die Weite der Freiheit und die einzigartigen Einzelheiten des Lebens geliebt. Vor allem trifft mich aber, dass die Zeit in der Landschaft wie ausgeschaltet scheint – genau so, wie in dem vornehmen Treppenhaus und wie in der gehaltenen Gebärde der Urenkelin. Die Ruhe im Gemälde ist die gleiche Ruhe wie im Haus. Frau Janssen bewahrt noch immer die Ruhe, die ihr Urgroßvater innehatte.

Der Beamte und Maler Janssen aus dem neunzehnten Jahrhundert öffnet meine Augen für unsere Gegenwart. Mit seinen Augen schaue ich bei der Kahlgrachtmühle-von-heute herum und stelle fest: es gibt vieles, dass es damals noch nicht gab, und es gab vieles, dass es heute nicht mehr gibt. Nein, Störche gibt es nicht mehr. Nein, den Mühlenteich gibt es nicht mehr. Nein, die wunderbare Öffnung in der Landschaft nach Aachen gibt es nicht mehr.

Gibt es die Freiheit noch? Klar ist, dass die heutige Autobahn die weite und entzückende und zur Freiheit verführende Sicht auf die Landschaft weggenommen hat. Anders als damals liegt die Mühle heute in einer Ecke, fast verborgen in einer Achse zwischen Autobahn und künstlichen Hügeln von Schutt aus dem Krieg. Seit hundertfünfzig Jahren ist ja unheimlich viel passiert – und man merkt es! Mir scheint es, als ob das Leben dichter und dringender geworden ist.

Als wir aber versuchen die genaue Stelle zu finden, wo der Maler Janssen damals gestanden und auf die Mühle geschaut hat, sagt Martin Soltau: „Die Apfelbäume stehen noch genau so am Abhang wie damals“. Und so ist es. Ich schaue und sehe, dass die Obstbäume eine Art Sprung machen, als ob sie sich mit einem Ruck halb drehen, in den freien Himmel hoch „springen“ und sich dort an Licht und Luft freigeben. Gerade dieses Springen und sich in den freien Himmel Preisgeben, hat der Maler vor hundertfünfzig Jahren gesehen. Er hat es aber nicht nur gesehen, sondern auch in sich selber nachvollzogen, so dass er es malen konnte.

Auf einmal meine ich das Springen und das sich nach oben in Luft und Licht Freigeben-wollen, überall in der Landschaft zu sehen. Die Obstbäume präsentieren irgendwie ein Urbild für die Landschaft um die Kahlgrachtmühle herum. (Eben der kerzengerade Rauch aus dem Schornstein scheint mir auf einmal auch an dem freigebenden Springen beteiligt zu sein.) Und hundertfünfzig Jahre später kann ich es bestätigen Dieses sprunghaft sich Freigeben nach oben, in Luft und Licht hinein, ist gerade, was ständig mit uns in die Mühle passiert. Der Unterschied zu der damaligen Zeit ist nur, das die Voraussetzungen ein wenig bedrängter geworden sind. Die Sprünge sind aber dementsprechend schöner geworden.
(Mit dank an Ruthild Soltau)