29.09.2008

Was Samuel und Sammy einander heute sagen. Über die gute Nacht

Samuel: „Lieber Sammy, nächsten Freitag fliege ich nach Valencia um meinen Freund José „Pepe“ Perez Gomiz zu besuchen. Ich habe dir schon einmal von ihm erzählt. Er hatte in diesem Sommer zwei schwere Operationen. Krebs. Und dann kam noch ein Gehirnschlag dazu. Jetzt liegt er in einem Bett und kann nicht mehr gehen.“

Sammy: „Ja, ich weiß... Ich sehe ihn vor mir. Er liegt in seinem Bett und stellt immer wieder fest, dass sich seine inneren Bewegungen nicht auf seinen Körper übertragen. Innerlich hat er seine Hand schon gehoben, merkt dann aber eine Sekunde später, dass sie immer noch auf dem Laken liegt. Immer wieder sagt er sich: wie kann es sein, dass mein Körper nicht mehr mitmacht? Und gerade jetzt, weil seine Arme und Beine ihm nicht mehr zur Verfügung stehen, wird ihm überhaupt klar, dass er einen Körper hat. Er kann aber nicht darüber reden, weil er sprachlos ist.“

Samuel: „Glaubst du?“

Sammy: „Ich sehe es. Weil ich auf ihn schaue. Weil ich in seine Haut schlüpfe. Weil ich mich in seine Welt hinein bewege. Kannst du das nicht?“

Samuel: „Ich weiß nicht einmal wovon du redest.“

Sammy: „Es scheint mir ganz einfach zu sein. Du stellst dir deinen Freund vor, bewegst dich in die Vorstellung der Lähmung, also: du bist für einen Moment gelähmt, und schaust einfach auf das, was geschieht. Dann wirst du merken, dass du einen Körper hast“. 

Samuel: „Mir ist schon bekannt, dass ich einen Körper habe.“

Sammy: „Bekannt ist es dir schon. Hast du es aber auch gespürt?“

Samuel: „Ich will Pepe besuchen um festzustellen, ob er noch weiter leben will. Ob er wieder lernen will, sich auf einen Stuhl zu setzten. Aufs Klo zu gehen. Ob er die Kraft dazu hat. Ja, ich weiß, er wird dafür Monate brauchen. Harte Monate. Ich will ihn aber spüren lassen, dass ich gerne hätte, dass er noch eine Weile bei uns bleibt. Um Tangomusik zu hören. Um eine Paella zu essen. Und vor allem um bei seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern zu sein. Und ich möchte ihm ein Gedicht von Dylan Thomas vorlesen.“

Sammy: „Du hast viel vor.“

Samuel: „Das Gedicht endet so: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light“.

Sammy: „Wüten gegen das Sterben des Lichtes...“

Samuel: „Ja, ich möchte, dass Pepe um das Licht seines Lebens kämpft.“

Sammy: „ ... “

Samuel: „Ich will Pepe besuchen um festzustellen, ob er noch einen Grund hat, bei uns zu bleiben. Ob er sich aufrichten will. Ob er ...“

Sammy: „Samuel, du bist zu schnell für mich. Ich verstehe dich nicht. Du redest so, als ob dein Freund schon gestorben wäre. Er lebt aber. Und zwar sehr intensiv. Er ist sprachlos, weil er an einer Schwelle angekommen ist. Ihm fehlen einfach die Worte. Und ja, es geht ihm beschissen. Und ja, er stellt sich ein Leben ohne gehen zu können, wie eine dunkle Nacht vor. Warum spricht Dylan Thomas eigentlich von einer guten Nacht? Was ist aus seiner Sicht gut an dieser Nacht?“

Samuel: „Er meint: Wise men at their end know dark is right”.

Sammy: „Das Dunkel ist also richtig? Oder meint er: das Dunkel hat Recht?“

Samuel: „Ich weiß nicht, was er meint...“

Sammy: „Wenn ich auf Pepe schaue, scheint es mir so zu sein, dass er feststellt, dass es die Nacht gibt. Dass die Nacht einfach da ist. Ja, das war ihm schon bekannt, er hatte es aber noch nicht gespürt. Die Nacht, das Dunkel und der Tod sind in sein Leben getreten, haben sich gezeigt, sind aus der Nacht, aus dem Dunkel und aus dem Tod heraus getreten – sind Tag und Licht und Leben geworden. Das macht ihn sprachlos. Wie sollte man das auch in Worte fassen! Ich könnte es nicht...“

Samuel: „Du machst es aber.“

Sammy: „O nein! O nein! Ich bin genau so stumm wie Pepe. Diese drei Worte, Nacht und Dunkel und Tod, sagen gar nichts aus. Sie verbergen, was sie zeigen.“ 

Mit Dank an Sophie Pannitschka

20.09.2008

Die Legalisierung von Schätzen & die Befreiung von Drachen

Ja, sie hat lange damit gewartet, vielleicht zu lang, um die Worte auszusprechen. Weil sie sich über die richtigen Worte nicht sicher war. Weil sie nicht verletzen wollte. Weil sie überhaupt Angst hatte, einem Menschen von Angesicht zu Angesicht negative Bewertungen auszusprechen. Jetzt hat sie aber den Mut gefasst. Und die Worte die sie endlich aussprach, waren klar & kräftig & souverän.

Ihre Kollegin hat zugehört. Schweigend. Und schluckend. Die klaren & kräftigen & souveränen Worte waren richtig angekommen, ja sie haben eingeschlagen. Sie saß am Tisch, Haupt und Rücken aufrecht, die Augen feucht und der schmale Mund geschlossen. Jetzt – ein paar Tage später – meine ich mich zu erinnern, dass ihre Hände zitterten. Aber vielleicht bilde ich mir das im Nachhinein auch nur ein. Sicher ist aber, dass sie innerlich zitterte.

Nach einer Weile der Stille sprach sie. Es war ihr anzusehen, dass sie verzweifelt war. Sie sprach und sprach, und ihre Worte waren wie aufgeschreckte Rebhühner in einem Jagdrevier. Alle Bedeutungen flatterten. Und dann, auf einmal gefasst, schaute sie die Kollegin an und sagte: „Was du an mir schwierig & unerträglich & unmöglich findest, halte ich gerade für meinen Schatz. Ja, du sprichst von meinem Schatz“.

Ich durfte dabei sein. War ein Zeuge. Ich durfte das mächtige & verwirrende & intime Ringen dieser zwei Kolleginnen mit einander wahrnehmen. Ich durfte in den Abgrund schauen, der sich zwischen den beiden öffnete. Und noch jemand war dabei, auch eine Kollegin, befreundet mit den beiden. Sie sagte: „Ich bin froh, dass die Worte jetzt ausgesprochen sind“.

Der Schatz. Was ist damit gemeint? Mir scheint es so zu sein, dass jeder Mensch in sich einen Schatz erlebt. In der Sprache der Märchen: in jedem von uns gibt es eine Höhle, eine „Aussparung“, in der es mehr oder wenig dunkel ist und in der ein goldener Schatz schimmert. Wir alle schauen in uns auf diesen Schatz, halten ihn für kostbar & delikat & geheimnisvoll. Und ich behaupte, dass kein Mensch ein positives Selbstbild haben kann, ohne sich auf irgendeine Art und Weise auf diesen Schatz zu orientieren.

Der Schatz beinhaltet Fähigkeiten, Intentionen, Vorsätze, Weisheiten vielleicht, die ein doppeltes Gesicht haben. Sie sind vorhanden und doch nicht vorhanden. Sie sind beleuchtet und doch nicht beleuchtet. Sie wenden sich zur Welt und wenden sich von der Welt ab. Sie sind glänzend verletzbar, unzerstörbar fragil, und vor allem: sichtbar ohne fassbar zu sein. In der Sprache der Philosophen: der Schatz ist „das Selbst“, dass „bislang noch keine Gelegenheit hatte, sich [...] zu manifestieren“ (Michel Foucault).

Wir haben gute Gründe diesen Schatz zu beschützen. (Oder meinen zumindest sie zu haben.) Und deswegen gibt es – um wieder die Sprache der Märchen zu benutzen – keinen Schatz ohne einen Drachen. Vor jedem Schatz liegt ein Drache, der meistens schlummert, aber sofort hell wach wird und sich vehement wehrt, wenn eine Gefahr droht. Wenn nötig, speit er Feuer. Schatz und Drache gehören zu einander, sind einander verpflichtet und bilden eine perfekte Symbiose. Beides ist wahr: wo es einen Schatz gibt, gibt es einen Drachen; und wo es einen Drachen gibt, gibt es einen Schatz.

Oft muss man ein richtiger Held sein, um an den Schatz in einem Kollegen oder einem Bekannten oder einem Freund zu gelangen. 

Mir scheint es als Zeuge meine Aufgabe zu sein, den Schatz der Kollegin zu beschreiben, zu offenbaren und damit zu „legalisieren“. Die Kollegin selber kann das nicht. (Ein „Selbst“ kann sich nicht selber „verteidigen“, weil es ein „Selbst“ ist und nicht ein „Subjekt“ - siehe dazu meine Blogbeiträge über „Selbst und Subjekt“). Mit der Legalisierung der Schätze ist hier genau gemeint, was damals im Wilden Westen gemacht wurde, wenn eine Goldgrube entdeckt wurde: der Ort wurde beschrieben und der Inhaber anerkannt. (Man könnte an dieser Stelle auch von der Sozialisierung der Schätze sprechen.)

Durch Beschreibung und Anerkennung werden Schätze geschützt und Drachen befreit. Die Frage ist natürlich, was hier mit Beschreibung gemeint ist. Oder anders gesagt: wie kann man ein „Selbst“ beschreiben, ohne es auf einen Punkt festlegen zu wollen (das heißt: es zu „subjektivieren“)? Ich meine, dass das nur in Bildern geht – in imaginativen Vorstellungen, die wachsen & schweben & sich verwandeln & sich ausweiten & wieder verschwinden können. Die Aufgabe von Künstlern & Dichtern & Journalisten & Rappern & Photographen & Cineasten in einer Kultur des Herzen ist es, solche Vorstellungen zu machen. 

(Jeder Mensch ist ein Künstler & Dichter & Journalist & Rapper & Photograph & Cineast.)

Und was geschieht mit dem Drachen? Jeder Drache hat eine erstaunliche Intelligenz und eine enorme Kraft entwickelt. Wenn er in der Höhle-in-uns nicht mehr gebraucht wird, weil der Schatz anerkannt und legalisiert ist, darf er raus. Er darf in die weite Welt ausfliegen und sich dort mit den Sachen des Lebens, die ihm wichtig sind, beschäftigen. Den Kontakt zu seinem Schatz wird er aber nie verlieren. Die Haupttugend von Drachen ist nämlich Treue.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

16.09.2008

Was es heißt, mit Schenkgeld zu leben. Über Freiheit

Seit einem Jahr wird mir jeden Monat ein Betrag von 250 Euro überwiesen. Ich brauche dafür nichts zu tun, dass heißt, von mir wird keine Gegenleistung erwartet. Verantwortlich für diese Tatsache ist die „Zukunftsstiftung soziales Leben“ von der GTS-Treuhandstelle in Bochum – in meinen Worten: eine Unternehmung die Geld in Freiheit investiert. 

Vor einem Jahr habe ich „ja“ gesagt. Und damit liegt die Verantwortung genau so bei mir. Wir haben einen „Deal“ gemacht. Wir haben uns die Hände geschüttelt, einander in die Augen geschaut und gesagt: wir spüren Vertrauen, wir machen es also. Ein Deal – vor allem die Engländer und die Amerikaner wissen das – ist eine Sache des Vertrauens. Und beide Parteien wissen, dass das Leben entweder über links oder über rechts über die definitive Ordnung der Dinge entscheidet.

Was ist die definitive Ordnung der Dinge? Was haben mir die 250 Euro ermöglicht? Als erstes würde ich sagen: sie haben mir geholfen, Freiheit noch besser als Baustelle zu verstehen. Wir alle wissen, dass Geld keine einfache Sache ist, egal ob man wenig oder gerade viel davon hat. Ich behaupte, dass fast kein Mensch ein freies Verhältnis zu Geld hat, so, wie kaum jemand ein freies Verhältnis zu Sex oder Macht hat.

Zu einer „Kultur des Herzens“ gehört es, soziale Einrichtungen zu gestalten, wo das Erlangen der Freiheit in Bezug auf Geld geübt werden kann. (Oft meint man, dass eine Kultur des Herzens auf Freiheit basiert. Nein, eine Kultur des Herzens nimmt die Tatsache ernst, dass Freiheit erst erobert werden muss. Die Kultur des Herzens ist diesbezüglich eine Eroberungskultur.)

Wie sieht es mit meiner Unfreiheit aus? Als vor einem Jahr die Zusage kam, 250 Euro pro Monat zu bekommen, war ich glücklich. Ich dachte: toll, eine Sorge weniger. Ja, auch das muss klar gesagt werden: mir ist dieser Betrag jeden Monat geschenkt worden, weil ich nicht souverän im Stande war – und noch immer nicht bin – mir diese Freiheit zu erobern.

Ich mache seit etwa fünfzehn Jahren immer wieder gerade die Sachen, die wenig Geld bringen. In dieser Hinsicht wäre ich besser Journalist geblieben, denn dann hätte es ganz anders ausgesehen. Das wollte ich aber nicht. Manchmal denke ich: Jelle, du bist 57 Jahre alt und du hast es nicht geschafft den Wohlstand zu erreichen. Was ist los mit dir?

Ja, was ist los mit mir? Das ist so ein Gedanke, mit dem man fertig werden muss, wenn man mit Schenkgeld lebt. 

Ich dachte also: toll, eine Sorge weniger. Nach ein paar Monaten kam aber der Gedanke: Jelle, du solltest doch irgendwie zeigen, dass der Deal berechtigt war! Auch wenn die Stiftung sagt: Jelle, wir verlangen von dir nur, dass du dasjenige machst, was du von dir aus machen willst. Es bleibt aber eine Tatsache, dass es eine Enttäuschung wäre, wenn ich sagen würde: ich habe mir Zigaretten davon gekauft. Zumindest – ich kann natürlich nur für mich sprechen – steht fest, dass ich es für mich dabei nicht lassen kann. Auch wenn die Stiftung keine Erwartungen an mich hat, - ich erwarte etwas von mir. 

Wie frei ist die Erwartung, die ich an mich habe? Na, ich würde sagen: die Antwort ist gemischt. Wahr ist aber – und darin liegt aus meiner Sicht die Bedeutung einer Schenkung – dass die Frage in mir mittlerweile richtig zu meiner inneren Baustelle gehört. Ich arbeite an der Frage und die Frage arbeitet an mir.

Es gibt aber noch etwas zu sagen. Seit Juni letzten Jahres veröffentliche ich jede Woche eine Story auf meiner Website. Und die Themen, die dort auftauchen, sind echt meine Themen: das kleine Kind, Tod und Betroffenheit, die Anthroposophie als postmoderne Diskurs, die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens, die Bedeutung der Sprache, eine Anthroposophie frei von Ideologie... Viel in meinem Leben macht mir Spaß – das Schreiben und Veröffentlichen der Beiträge auf meiner Website macht mir sehr viel Spaß. Ich erreiche damit viele Menschen – kriege viele Reaktionen. Und: die Website ist eine Art Baustelle für ein Buch, das ich schreibe. Über die Freundschaft.

Für mich verstehe ich die Ordnung der Dinge so: die 250 Euro pro Monat haben mir die Website ermöglicht. 

08.09.2008

Die Art von Johannes Stüttgen. Und über eine Filzbatterie

Johannes Stüttgen sieht gut aus. Die runde Hornbrille, der flotte Haarschnitt, die perfekt passende lederne Jacke, die Bluejeans und die weißen Joggingschuhe bilden ein fast makelloses outfit. Nur mit den Schuhen ist etwas los. Obwohl Johannes Stüttgen alles andere als hervorragend lang ist, wirken die Schuhe so, als ob sie ganz - ganz - ganz unten wären.

Wir sind mit einer Truppe von zwanzig Erzieherinnen und Freunden in Krefeld. Im Kaiser-Wilhelm-Museum befinden sich zwei Räume, die von Joseph Beuys eingerichtet wurden. Für Johannes sind die beiden Räume, die direkt neben einander liegen und klar eine einheitlich-doppelte Wirklichkeit ausmachen, „eine richtige Schatzkammer, der wichtigste Schulungsraum in Nordrhein-Westfalen“. Es ist Johannes anzusehen, dass er hier sehr gerne verweilt.

Johannes redet. Reden ist sein Ding. Und er geht. Gehen ist genauso sein Ding. Und: er redet wie er geht. Sein Reden und sein Gehen werden von einer Instanz gleichzeitig angeregt, so dass man spürt: irgendwo in Johannes gibt es eine Quelle der Aufmerksamkeit, die beides umfasst: Gehen und Sprechen.

Diese Quelle liegt nicht in seinem Kopf, sondern in seinem Brustbereich. Aus dieser Quelle steigt irgendwie die Bewegung der Worte nach oben und gleichzeitig die Bewegung der Schritte nach unten. Und seltsam: erst wenn ich mich innerlich mit seinen Schritten mitbewege, so, als ob ich sie in mir zulasse und er meine innere „Filzbatterie“ berührt, verstehe ich seine Worte. Ich muss mich also vor allem auf seine Joggingschuhe orientieren.

Filzbatterie. Im zweiten Raum befindet sich eine streng organisierte „Stapelung“ von quadratischen Filzdecken, abgedeckt von schweren Kupfer- und Eisenplatten. Die „Stapelung“ ist etwa einen Meter hoch, einen Meter breit und sechs Meter lang. Das Ganze wirkt wie eine Partie Rohmaterial in eine Fabrikhalle, die darauf wartet verarbeitet zu werden. Wenn man der „Stapelung“ folgt, endet man bei einem Kanichen-Zaun-Gitter. Dahinter befinden sich die Regale des „verlassenen Labors eines Wissenschaftlers“.

Die Wirkung ist klar: ohne die Kraft der Batterie würde man sich in der Vielfältigkeit der Gegenstände im Labor verlieren. Oder anders gesagt: ohne die kompakte und chaotische Wärme des Filzes sollte man besser nicht in die vielfältige Kälte der „verlassenen“ Wissenschaft einsteigen.

Johannes steht neben der Batterie. Er schweigt und schaut nach innen. Es ist, als ob er zurückkehrt zu seiner Quelle im Brustbereich und lauscht. Gleichzeitig aber schaut er durch seine kecke Hornbrille ein bisschen dunkel auf uns. Wir sitzen an der Wand, auf wackeligen portable chairs. Und wir schweigen stumm. Irgendwie hängt etwas ungreifbar Unbequemes in der Luft. Der Blick von Johannes rollt „rundkugelig“ wie zwei innig Hand-in-Hand tanzende schwarze Murmeln durch den Raum. „Ihr dürft mich ruhig unterbrechen“, sagt er dann. Das tun wir aber nicht. Weil uns die Worte fehlen. (Wenn man in eine Filzbatterie eingetaucht ist, spricht man nicht.)

Und dann,

dann dreht Johannes sich langsam um, er legt seine rechte Hand auf die Batterie, berührt bei seiner Drehung kurz eine Kupferplatte - fast wie eine Amsel die kurz landet und sofort wieder aufsteigt - bringt dann Schwung in seine Bewegung, geht mit rhythmischen Schritten an der Filzstapelung entlang und auf die Gitter zu. Dort bleibt er stehen und sagt: „Auch wenn ihr es nicht merkt, die Filzbatterie wirkt in uns.“

Und ich verstehe. Das heißt: ich verstehe, dass die Filzbatterie wirkt. Und ich verstehe, dass die Filzbatterie im Gehen von Johannes wirkt. Und ich verstehe, dass sein Gehen ganz und gar nicht außerhalb von mir geschieht. Er geht in mir, wenn ich will. Sein Gehen bewegt sich in mir.

Und damit auch sein Denken. Wie denkt Johannes Stüttgen? Klar ist, dass ihm viele Begriffe zur Verfügung stehen. Seine Denk-Regale sind gut gefüllt. Und manchmal wirken seine Begriffe auch ein bisschen wie ready mades, ich meine portable chairs, die er einfach nimmt und hinstellt. Die Wahl die er dabei immer wieder trifft, ist nicht nur treffend, sondern auch sehr sorgfältig. Johannes hat eine unsichtbare Meisterhand.

Schön ist, dass manchmal auf der Stelle ganz neue Gedanken entstehen, denen Johannes sofort einen Platz in seinen Regalen gibt.

Mich trifft aber vor allem, dass die Wahl ein Aspekt seiner Bewegung ist. Auch wenn Johannes redet, schweigt er, so, als ob es in ihm einen zweiten Raum gäbe, in dem er sich ständig schweigend-wach bewegt, genauso, wie er sich rhythmisch langsam-schnell und immer wieder sich wendend im äußeren Raum bewegt, im Raum seines Meisters also. Auf mich wirkt sein Denken so, als ob er im Vorbeigehen in seine Regale greift. Er trifft seine Wahl en passant.

Wenn er redet, schweigen die Menschen oft. Weil sie verwundert darüber sind, dass sie in eine Bewegung aufgenommen werden.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

01.09.2008

Seminar für Waldorfpädagogik Köln. Diskurs über Kindheit

Im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln beginnt in November ein neuer Kurs.Das Motto heißt: Erziehung neu ergreifen. Als Dozent am Seminar möchte ich in diesem Text meine Begeisterung ausdrücken, für das, was in Köln geleistet wird. Ich bin richtig stolz & froh & aufgeregt, und ich hoffe, dass viele Menschen den Weg nach Köln finden. Es lohnt sich, bei uns mitzumachen.

Was machen wir? Rein formal bieten wir eine berufsbegleitende Fortbildung für Menschen, die Waldorferzieher/in werden wollen. Unsere Teilnehmer/innen erhalten nach zwei Jahren ein bundesweit anerkanntes Zertifikat, das professionelle Mitarbeit in den Waldorfkindergärten ermöglicht. Wir freuen uns aber auch über Leute, die einfach die Waldorferziehung kennen lernen wollen, warum auch immer. Man braucht also kein/e staatlich anerkannte/r Erzieher/in zu sein, um bei uns mitzumachen.

Um die Qualifikation zu erreichen, beschäftigen wir uns jeden Montag (von 15.30 bis 21.00 Uhr) mit Pädagogik, Methodik-Didaktik, Anthroposophie, sowie Musik, Eurythmie oder Sprachgestaltung. Hinzu kommen jedes Jahr jeweils noch sechs Wochenenden und eine Blockwoche, die in Zusammenarbeit mit Henning Köhler vom Janusz Korczak Institut (Nürtingen) und Pär Albohm von der Solvikschule (Järna, Schweden) gestaltet werden. In diesen Wochenenden geht es um „pädagogische Integration“ und „intuitive Pädagogik“. Was damit genau gemeint ist, kann ich in diesem kurzen Text nicht erklären. Ich möchte es bei einem Satz lassen: Köhler und Albohm bringen Bewegung.

Ergänzt wird diese Arbeit von einem engagierten Seminarkollegium: Anne Marisch und Eva Nahrwold vom Leitungsteam, sowie Christa Büscher, Carola Grass, Hedwig Sautter, Keiko Fujita, Dr. Christian Schädel, Elke Irene Scheuffele, Regina Thorne, Ute Wagner-Zavaglia und weitere Gastdozenten/innen).

Also, das machen wir. Um aber zu beschreiben, was im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln wirklich geschieht, müssen noch drei andere Ebenen erörtert werden. Die erste heißt: persönliche Entwicklung, die zweite: Begegnung, und die dritte: Diskurs über Kindheit.

Was heißt persönliche Entwicklung? Es ist ein schönes Gesetz: Wenn man sich auf die Anthroposophie einlässt, geschieht etwas in der eigenen Biographie. Die eigene Entwicklung wird beschleunigt. Der Grund dafür ist einfach zu verstehen: Anthroposophie macht Menschen zu aktiven Insidern im Leben. Die vielen Fragen & Ahnungen & Hoffnungen, die schon lange in uns schlummern, werden durch die Begegnung mit der Anthroposophie ins Licht gehoben. Sie erhalten ein Gesicht. Und auf einmal versteht man, dass das eigene Leben mehr ist, als eine Ansammlung von Zufälligkeiten & Sachzwängen & Verpflichtungen. Das Leben wird ein Kunstwerk, das man gestalten kann.

Die viele Fragen & Ahnungen & Hoffnungen bringen zuerst Verwirrung. Was gestern noch selbstverständlich war, ist heute eine offene Frage geworden. Zu der persönlichen Entwicklung gehört, einen inneren Kompass zu finden, womit man in der Verwirrung navigieren kann. Und gerade das ist im Seminar für Waldorfpädagogik eine wichtige Sache: eine souveräne Beziehung zu sich selbst zu finden. Der rote Faden durch alle Fächer bezieht sich also auf den Umgang mit sich selbst.

Und was heißt Begegnung? Menschen haben unterschiedliche Erfahrungen & Fähigkeiten & Intentionen. Oft ist der/die Andere richtig „fremd“. Mich begeistert immer wieder zu sehen, wie im Seminar im Laufe der Zeit die Beziehungen zwischen den Teilnehmer/innen sich vertiefen und eine kollegiale oder eben freundschaftliche Ebene erreichen. Das An-einander-wachsen und Mit-einander-ringen während des Unterrichts (und vor allem auch in den Pausen und nachher in der Kneipe!) trägt dazu bei, dass eine positive Beziehung zu der Vielfältigkeit des Lebens entsteht. Und in jeder erzieherischen Tätigkeit ist diese Beziehung zur Vielfältigkeit entscheidend.

Über das ganze Seminar leuchtet für mich der Begriff: Diskurs über Kindheit. Darauf bin ich richtig stolz. Ich meine damit, dass wir nicht nur die klassischen Inhalte der Waldorfpädagogik übermitteln. Klar, das machen wir auch, und zwar sehr gerne. Über die reine Vermittlung von Inhalten hinaus findet aber auch eine Art „Untersuchung“ statt, die sich auf die Frage bezieht: Wie sind in der heutigen Zeit die Kinder – und ist damit auch „Kindheit“ – zu verstehen? Dass wir im Seminar im Stande sind, uns immer wieder mit dieser offenen Frage zu beschäftigen, verdanken wir klar Henning Köhler. Er schafft es immer wieder, den aktiven Insider-in-uns in Bezug auf die Kinder zu wecken.

Ich meine, dass Erziehung heute eine sehr spannende Sache ist. Gute Erzieherinnen und Erzieher beschäftigen sich gleichzeitig warm und nüchtern mit dem, was im Kommen ist – in sich selber, in den Kindern, in den Eltern, in den Kollegien und in der Gesellschaft. Ich meine, dass wir es im Seminar für Waldorfpädagogik in Köln schaffen, frei und engagiert zu schauen, auf das was kommt. Wir freuen uns in Köln über Teilnehmer/innen, die in dieser Weise mitmachen wollen.