29.09.2008

Was Samuel und Sammy einander heute sagen. Über die gute Nacht

Samuel: „Lieber Sammy, nächsten Freitag fliege ich nach Valencia um meinen Freund José „Pepe“ Perez Gomiz zu besuchen. Ich habe dir schon einmal von ihm erzählt. Er hatte in diesem Sommer zwei schwere Operationen. Krebs. Und dann kam noch ein Gehirnschlag dazu. Jetzt liegt er in einem Bett und kann nicht mehr gehen.“

Sammy: „Ja, ich weiß... Ich sehe ihn vor mir. Er liegt in seinem Bett und stellt immer wieder fest, dass sich seine inneren Bewegungen nicht auf seinen Körper übertragen. Innerlich hat er seine Hand schon gehoben, merkt dann aber eine Sekunde später, dass sie immer noch auf dem Laken liegt. Immer wieder sagt er sich: wie kann es sein, dass mein Körper nicht mehr mitmacht? Und gerade jetzt, weil seine Arme und Beine ihm nicht mehr zur Verfügung stehen, wird ihm überhaupt klar, dass er einen Körper hat. Er kann aber nicht darüber reden, weil er sprachlos ist.“

Samuel: „Glaubst du?“

Sammy: „Ich sehe es. Weil ich auf ihn schaue. Weil ich in seine Haut schlüpfe. Weil ich mich in seine Welt hinein bewege. Kannst du das nicht?“

Samuel: „Ich weiß nicht einmal wovon du redest.“

Sammy: „Es scheint mir ganz einfach zu sein. Du stellst dir deinen Freund vor, bewegst dich in die Vorstellung der Lähmung, also: du bist für einen Moment gelähmt, und schaust einfach auf das, was geschieht. Dann wirst du merken, dass du einen Körper hast“. 

Samuel: „Mir ist schon bekannt, dass ich einen Körper habe.“

Sammy: „Bekannt ist es dir schon. Hast du es aber auch gespürt?“

Samuel: „Ich will Pepe besuchen um festzustellen, ob er noch weiter leben will. Ob er wieder lernen will, sich auf einen Stuhl zu setzten. Aufs Klo zu gehen. Ob er die Kraft dazu hat. Ja, ich weiß, er wird dafür Monate brauchen. Harte Monate. Ich will ihn aber spüren lassen, dass ich gerne hätte, dass er noch eine Weile bei uns bleibt. Um Tangomusik zu hören. Um eine Paella zu essen. Und vor allem um bei seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern zu sein. Und ich möchte ihm ein Gedicht von Dylan Thomas vorlesen.“

Sammy: „Du hast viel vor.“

Samuel: „Das Gedicht endet so: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light“.

Sammy: „Wüten gegen das Sterben des Lichtes...“

Samuel: „Ja, ich möchte, dass Pepe um das Licht seines Lebens kämpft.“

Sammy: „ ... “

Samuel: „Ich will Pepe besuchen um festzustellen, ob er noch einen Grund hat, bei uns zu bleiben. Ob er sich aufrichten will. Ob er ...“

Sammy: „Samuel, du bist zu schnell für mich. Ich verstehe dich nicht. Du redest so, als ob dein Freund schon gestorben wäre. Er lebt aber. Und zwar sehr intensiv. Er ist sprachlos, weil er an einer Schwelle angekommen ist. Ihm fehlen einfach die Worte. Und ja, es geht ihm beschissen. Und ja, er stellt sich ein Leben ohne gehen zu können, wie eine dunkle Nacht vor. Warum spricht Dylan Thomas eigentlich von einer guten Nacht? Was ist aus seiner Sicht gut an dieser Nacht?“

Samuel: „Er meint: Wise men at their end know dark is right”.

Sammy: „Das Dunkel ist also richtig? Oder meint er: das Dunkel hat Recht?“

Samuel: „Ich weiß nicht, was er meint...“

Sammy: „Wenn ich auf Pepe schaue, scheint es mir so zu sein, dass er feststellt, dass es die Nacht gibt. Dass die Nacht einfach da ist. Ja, das war ihm schon bekannt, er hatte es aber noch nicht gespürt. Die Nacht, das Dunkel und der Tod sind in sein Leben getreten, haben sich gezeigt, sind aus der Nacht, aus dem Dunkel und aus dem Tod heraus getreten – sind Tag und Licht und Leben geworden. Das macht ihn sprachlos. Wie sollte man das auch in Worte fassen! Ich könnte es nicht...“

Samuel: „Du machst es aber.“

Sammy: „O nein! O nein! Ich bin genau so stumm wie Pepe. Diese drei Worte, Nacht und Dunkel und Tod, sagen gar nichts aus. Sie verbergen, was sie zeigen.“ 

Mit Dank an Sophie Pannitschka

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, so schön dieses Gespräch mit Samuel und Sammy! Du nimmst uns, die Leser, alle mit zu Pepe und er ist nicht mehr allein! Geht es nicht ganz viel darum, dass wir wieder mit den Menschen, die an der Schwelle stehen , sprechen - und dann mit den Verstorbenen? Liebe Grüße Ruthild

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle van der Meulen, haben Sie schon den Film Schmetterling und Taucherglocke gesehen? Wenn man einmal diesen gewissen Hollywood-Kitsch abzieht, finden sich darin sehr schöne Dialoge und Szenen, die gerade diese Thematik auf ihre ganz eigene Weise umkreisen. Schöne Grüße, Sid(onie)