30.11.2008

Christine Ballivet ist gestorben. Was mich jetzt bewegt...

Letzten Donnerstag kam die Nachricht, dass Christine Ballivet gestorben ist. Sie war in einer Sitzung in Lyon, verlor ihr Bewusstsein und konnte nicht mehr zurückgeholt werden. Und so war es mit Christine: sie war nur präsent, wenn sie es wollte.

Christine gehört zu den Menschen in meinem Leben, die mich am tiefsten beeindruckt haben. Wenn ich an Gespräche-als-Ereignisse denke, denke ich an Christine. Ob in der Kneipe in Amsterdam, in den Seminaren im „blauen Haus“ in Kirchen oder auf der Terrasse in der Drȏme, ihre Worte waren immer & immer & immer wie Lebewesen. Was sie sagte, fühlte sich an wie Tiger & Elefanten & Kolibris. Sie sagte nichts ohne Blut und Leidenschaft.

Christine war schon eine Ewigkeit krank. Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht essen. In Amsterdam haben wir gemeinsam Tage & Tage verbracht, an denen sie nur Kaffee trinken, Zigaretten rauchen, Eis essen und dazu mit Mühe ein Keks zu sich nehmen konnte. Mehr nicht. Alles andere war zu viel, zu fett, zu beliebig, zu uneigentlich. Sie sagte: „Die Luft in der Stadt wo Rembrandt lebte, reicht mir“.

Mit Christine bin ich immer & immer in die Landschaft der Sprache eingetaucht. Sie war Französin, ich bin Holländer. Unsere gemeinsame Sprache war aber immer Deutsch. Sie konnte deutsch reden, wie eine Pianistin Gitarre spielt: nachdenklich, langsam und genau. Sie war wie Foucault, als er über Heidegger sprach: tiefsinnig verzweifelt, tastend.

Christine konnte denken. Und sie verstand, wie unmöglich schön & schön unmöglich die Menschen sind. Und sie war Anthroposophin. Ich glaube, sie war die erste postmoderne Anthroposophin, die ich kennen lernte. Ihr Denken war nicht nur von Steiner, sondern auch von Deleuze geprägt. Und weil sie postmodern war, hatte sie den Mut zum Denken. Nicht was angeblich stimmte, hat Christine überzeugt – nur was sie zusammen mit anderen denken konnte, war für sie wahr.

Dieses zusammen mit anderen denken war ihre Leidenschaft. Dieses Bewegen der Gedanken, so dass man das Gefühl hatte: der Tisch der die Aschenbecher trägt, bewegt sich mit, steigt zum Himmel oder stürzt in den Abgrund, war ihre Kraft. Oder noch anders gesagt: ihr Denken war einverleibt. Oder noch anders: sie hat gedacht, so wie die meisten Menschen essen.

Jetzt ist Christine tot. Natürlich: sie wird auf einer anderen Ebene weiter existieren. Dieser denkende & bewegende & schauende & rauchende & leidenschaftliche Mensch ist aber gegangen. Für immer. Ich werde Christine vermissen.

Voor de mensen uit Nederland: zie ook http://antroposofieindepers.blogspot.com

28.11.2008

Parzivals Weg. Über Wissenschaft und Hingabe

Der Unterschied zwischen guten und schlechten Texten liegt darin, dass gute Texte eine Form haben, die dem Inhalt entsprechen. Schlechte Texte haben eine Form, die von irgendwo hergeholt werden, dass heißt, nicht aus & mit dem Inhalt entstanden sind. Ganz bestimmte Inhalte brauchen ganz bestimmte Formen, um zu werden was sie sind, nämlich ganz bestimmte Inhalte. Und ganz bestimmte Formen brauchen ganz bestimmte Inhalte, um zu werden was sie sind, nämlich ganz bestimmte Formen.

Ich komme auf diesen Gedanken auf Grund der Veröffentlichung einer Magisterarbeit im Fachbereich Germanistik. Die Autorin heißt Sophie Pannitschka. Der Titel ihres Buches lautet: „Mitspieler werden. Parzivâls Weg – vom Mittelalter in die Postmoderne. Identitätsentfaltung im ´Roten Ritter` von Adolf Muschg“.

Ich kenne die Autorin seit dem Erscheinen von Bernard Lievegoeds letztem Buch „Über die Rettung der Seele“. In diesem Buch spielt die Gestalt von Parzival eine große Rolle. Lievegoed befreit den mittelalterlichen Ritter von der Geschichte und beschreibt ihn als einen inspirierenden Geist bis in die heutige Zeit und sogar in die Zukunft hinein. Er macht, was Esoterikern eigen ist und verleiht der Gestalt eine wesentliche (oder mit Heidegger: eigentliche) Wirkung.

Seitdem ist die Autorin von Parzival berührt. Sie macht keinen Hehl daraus. Und als sie vor der Frage stand, welchem Thema sie sich in ihrer Magisterarbeit zuwenden würde, hat sie sich für „Der Rote Ritter“ des schweizerischen Schriftstellers Adolf Muschg entschieden. In diesem Roman verarbeitet & ergänzt & ändert Muschg die mittelalterlichen Angaben von Wolfram von Eschenbach und kreiert als „postmoderner Gegenwartsautor“ seine eigene Parzivalgeschichte. „Leitmotivisch“, schreibt Sophie Pannitschka, „ist der Roman [...] von einem Dialog zwischen Wolfram und Muschg durchzogen“.

In ihrer Magisterarbeit beschreibt Sophie Pannitschka, wie die Identitäten der Romanfiguren „aus einander hervorgehen“. Im Herz der Geschichte steht klipp und klar Parzival. Beschrieben wird aber, dass seine Person Schritt für Schritt aus den diversen Begegnungen entsteht. Ohne Herzeloyde & Sigune & Gurnemanz & Kundry & Anfortas & Gawan & Trevrizent kein Parzival und schon gar kein Gralsritter. In ihrer Arbeit greift sie indirekt die übliche Vorstellung an, dass ein „Ich“ sich souverän und linear entfaltet.

Sophie Pannitschka spricht in ihre Arbeit von „sozialen Netzwerken“. Sie schaut nicht auf „Kerne“, sondern auf Konstellationen von Kernen. Und in diesen Konstellationen von Kernen gibt es erkennbare Subjekte, (die aber nicht mit „Kernen“ verwechselt werden dürfen), so wie „Ermöglichungsfiguren“, „Erkenntnisfiguren“, „Opferfiguren“, „Orientierungsfiguren“ und „Gegenfiguren“. Parzivals Identität – Inhalt und Form seines Ichs – wird als eine periphere Erscheinung dargestellt.

Die Form der Arbeit-als-Text spiegelt den Inhalt. Das fängt schon in der ersten Bewegung des Titels an: „Mitspieler werden“. Alle Beteiligten (die Leser, die Autorin) werden direkt angesprochen. Der Text hat diesbezüglich übrigens eine bemerkenswerte Widmung: „Meinem Schicksalsnetzwerk“! Interessant ist die Tatsache, dass auch das Buch-als-Ding das gemeinte Schicksalsnetzwerk intensivieren und erweitern wird. An dieser Stelle reichen Inhalt und Form einander die Hand. Was könnte ein Buch anderes sein, als ein „Bedeutungsknoten“ in einem sozialen Flechtwerk?

Ebenso wesentlich für die Struktur des Textes scheint mir zu sein, dass die Arbeit in einen Prolog und einen Epilog eingebettet ist. Wenn der wissenschaftliche Haupttext eine Tür ist, bilden Prolog und Epilog die Angeln. Für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit sind Prolog und Epilog überflüssig. Sie schildern die persönlichen Umstände – wenn man will: die schicksalsbildenden Faktoren – die die Arbeit begleiten. Vom rein wissenschaftlichen Inhalt her, werden sie nicht gebraucht.

Im Prolog schildert Sophie Pannitschka eine Begegnung, die sie mit dem Schriftsteller Adolf Muschg hatte. Sie schreibt, dass was ihr in Muschg entgegenkam „nicht nur Kompetenz, mittelalterliche, literarische Kompetenz, sondern vor allem Hingabe“ war. Und: „Auch sein, wie unser aller Leben, ist mit dem Parzivâls verknüpft – und daraus macht er keinen Hehl“. Und im Epilog: „Ich bin, als intensive Leserin, im Laufe der Zeit ein Teil des Dialoges geworden. [...] Ich bin durch diese Tür zu mir selbst gegangen“.

Die Bedeutung von Prolog und Epilog geht über die wissenschaftliche Ebene hinaus und macht den Text zum Ereignis. Anders gesagt: durch die beiden Texte kriegt das Ganze eine gespannte Form, die mit dem gespannten Inhalt übereinstimmt. Prolog und Epilog „tun“ gerade das, von dem die Inhalte sprechen, was man tun soll.



Sophie Pannitschka: Mitspieler werden. Parzivâls Weg - vom Mittelalter in die Postmoderne. Identitätsentfaltung im „Roten Ritter“ von Adolf Muschg. Tectum Verlag, Marburg, 2008. Erhältlich im Buchhandel. Oder bei www.amazon.de

21.11.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über "spocken"

Lieber Samuel, gestern bin ich raus gegangen. Ich habe gedacht: es wird mal Zeit, dass ich mir die Gegend, in der Du lebst, anschaue. Ich hatte verstanden, dass Dir die Straßen & Plätze & Ecken & Kneipen in deinem Viertel wichtig sind. Immer wieder hast Du von der stummen Sprache der Stadt geredet, von den Zeichen & Statements & Behauptungen, die laut-still von etwas ganz Bestimmtem sprechen. Ich wollte endlich mal wissen, wie die Zeichen & Statements & Behauptungen in meinen Augen aussehen.

Und Du hast recht: sie sprechen von einer Unterwelt. Schon die Namen der Bars sind wie Türen nach unten. „Furchtbar“, heißt eine Bar, und „Umbruch“ eine zweite. Und komisch: vier Namen haben mit dem Kommunismus zu tun: „Che“ & „MiG“ & „Sovjetbar“ & „Roter Platz“. Es ist, als ob die Wende von 1989 in deinem Viertel eine eigene Bedeutung hat.

Wo du lebst, so sagen die Einwohner von Köln, „bebt die Stadt“. Damit ist gemeint, dass die Musik laut ist & die Menschen in der dunklen Nacht feiern & feiern & feiern. Sie stehen beisammen, trinken Kölsch und bewegen etwas. Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass man in deinem Viertel versucht die Wirklichkeit, die im Alltag bedeckt ist, aufzudecken.

In deinem Viertel herrscht die Allnacht. Sobald am Abend die Sonne verschwindet, erwachen in Kneipen & Ecken & Innenhöfen dunkle Gestalten zum Leben, ich würde sagen: verlassene & vergessene & manchmal unhöfliche Gesichter, die sich selber nicht kennen & keine Namen haben & deswegen „MiG“ genannt werden wollen. Nicht weil „MiG“ ein russisches Militärflugzeug ist, oh nein, die Gestalten wissen das vielleicht gar nicht – es reicht, dass der Name verboten ist, dass heißt, auf einer Verneinung basiert.

Und so erscheinen die allnächtlichen Bedeutungen in deinem Viertel über eine verdoppelte Distanz: ein Nicht-Wissen und ein Verbot. Und umgeben von diesen Bedeutungen stehen die Menschen beisammen, trinken Kölsch und bewegen etwas. Sie lassen die bebende Verneinung an sich herankommen, verstehen gar nichts davon, merken aber, dass sich etwas bewegt. Und obwohl dieses Bewegen sprachlich auf einem Nicht-Wissen & Verbot basiert, sich also in irreführende Gestalten hüllt, spüren die Menschen: wir befinden uns auf dem richtigen Weg.

Weil sie wissen, dass sich ohne Irreführung nichts bewegt.

Ich sah zwei Frauen und einen Mann. Sie standen beisammen, tranken Kölsch und bewegten etwas. Und weil ich noch immer wie ein Kind aussehe - bin ich natürlich längst nicht mehr! - haben sie nicht auf mich geachtet und einfach weiter geredet. Man braucht sich durch ein Kind nicht stören zu lassen. Meine Neugier, Samuel, war groß, weil sie intensiv gesprochen & gelacht & widersprochen haben. Als ich die drei sah, meinte ich: da ist richtig etwas los.

In der Sprache war aber gar nichts los. „Weißt du“, sagte eine Frau, „er wollte nur ficken!“ „Das glaube ich dir“, sagte die andere Frau. „Stell dir vor“, sagte die erste, „mit diesem Mann. Nie, nie, nie...“ „Oh nein“, lachte die zweite Frau, „ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du mit diesem Mann...“ „Ich weiß nicht“, sagte die erste Frau, „wie er überhaupt auf diesen Gedanken kam. Irgendwie muss da oben in seinem Kopf etwas grundsätzlich durcheinander geraten sein.“

„Wie hieß der Typ auch wieder?“ fragte der Mann. „Spock“, sagte die erste Frau. „Spock, Spock, Spock...“ Und der Mann wiederholte: „Spock, Spock, Spock... Nun ja, ich kenne keinen Spock. Und er ist Professor?“ „Genau“, sagte die Frau, „letztes Jahr geworden. Und sein Thema ist ganz spannend: Pilze in der Großstadt“. „Macht mich richtig scharf“, sagte der Mann lachend. „Spock, Spock, Spock“, sagte die zweite Frau, „das schmeckt nach trockenem Sex.“

Also, Samuel, in der Sprache gab es gar keine Bedeutungen. Was gesagt wurde, war belanglos. Nicht belanglos war aber die Hitze, die heiße Heiligkeit, die Tack-Spock-Tack-Spock-Tack-Spock Bewegung, die knackige Verwobenheit der Worte, die Schnelligkeit, das Theater... Als ich meine Augen schloss – manchmal muss man das machen, um zu wissen, was man sieht – sah ich Folgendes:

Ich sah drei Menschen, die Bewegung suchen. Ich sah drei Menschen, die irgendwie spüren, dass hinter oder unter oder über den Worten ein Leben fließt, sich eine Kraft bewegt, ein Feuer brennt... Dort wird gehandelt, getanzt, getötet, gefickt, gegessen, getrunken, gespielt, gekämpft, ohne zu wissen warum. Oder besser gesagt: dort ist das Warum belanglos. Ich sah drei Menschen, die sehnsüchtig teilnehmen wollten an einem abgründigen Bewegen.

In deinem Viertel wird gespockt.

12.11.2008

Die letzte Novemberrose. Eine klassische Liebesgeschichte

Mein Großvater pflegte einen Garten. Er wohnte in Doesburg direkt an der IJssel, dem schönsten Fluss in den Niederlanden. Sein Garten war wie ein Paradies für mich. In meinen Kinderaugen hatte der Garten alles, was ein Garten braucht, um ein richtiger Garten zu sein: einen Apfelbaum, Tomaten, Bohnen & Bohnen & Bohnen, Himbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren, Salat... und rote Rosen.

Ich traute mir damals nicht zu, in den Garten zu gehen. Pflanzen & Sträucher & Bäume waren mir fremd. Jetzt würde ich sagen, dass ich meine Innenwelt – mit meinen Träumen & Phantasien & Stimmungen & Überlegungen – ganz und gar nicht mit den stillen & schweigenden & regungslosen Erscheinungen in Verbindung bringen konnte, die mein Großvater so liebte. Die Pflanzen sollten mir selber nicht zu nahe kommen. Übrigens: mit Blumen hatte ich diese Befangenheit nicht.

Ich liebte es aber, von außen in den Garten hinein zu schauen. Und weil es am Rand eine Bank gab, setzte ich mich immer wieder hin, und schaute in den Garten. (Ich weiß noch, dass meine Beine zu kurz waren und herunter baumelten.) Vor allem dann, wenn mein Großvater im Garten arbeitete, saß ich gerne dort. Ich folgte seine Bewegungen und erlebte indirekt eine Berührung mit den fremden grünen Wesen. Eines Tages geschah das Folgende:

Mein Großvater kam auf mich zu und sagte: „Jelle, öffne deine Hände, so wie eine Schale...“ Ich verstand sofort was er meinte. (Auch daran erinnere ich mich: ich verstand immer sofort was mein Großvater meinte.) Als ich meine Hände geöffnet hatte, holte er hinter seinem Rücken eine Rose hervor, so rot und so groß, wie eine Rose rot und groß sein soll, um eine richtige Rose zu sein. Er legte sie in meine Hände – sie passte dort gerade hinein, und er sagte: „Für dich“.

Und ich wurde eine Rose. Drei, vier, fünf Tage lang gab es in der Welt nur noch diese Rose für mich, diese wunderbare rote-samtweiche-duftende Erscheinung, dieses „Ding“, das gar kein „Ding“ war, sondern ein musikalisches Bild, das zwar in meinen Händen lag, in Wirklichkeit mich aber durchflutete & vereinnahmte & beherrschte. Die ganze Welt war zur Rose geworden.

Seitdem habe ich eine Liebesbeziehung zu Rosen. Ein paar Jahre später stellte ich aufgeregt fest, dass es über Rosen eine Menge zu wissen gab. Ich fing an Bücher über Rosen zu lesen, einfache für Kinder, schwierige für Biologen. Und ich legte Rosen auf meinen Tisch, nahm sie auseinander, zählte die Blätter, ordnete die unterschiedliche Teile. Ich wurde ein kleiner Rosen-Spezialist.

Und ich merkte nach einer Weile: der Rose war gestorben. Die anfängliche & überrumpelnde Erfahrung, dieses von der Rose „erobert“ zu sein, kam nie wieder. Statt dessen war die Rose tatsächlich ein „Ding“ geworden, eine Erscheinung außerhalb von mir, worüber es ganz viel zu wissen gab, und die höchstens gemütlich-ästhetisch in einer Vase auf meiner Fensterbank stand. Ich stellte fest, dass ich die Rose verloren hatte.

Der Schmerz des Verlustes kam. Wie sieht das Leben ohne eine Rosen aus, ich meine: ohne eine Rose in mir? Als Erinnerung war die Rose noch da, und immer wieder erlebte ich wie ein Echo eine Art Hauch, ein Nachklang der Liebe für die Rose. (Ja, mein Großvater: noch immer sind meine Erinnerungen an ihn mit solchen Verlusten verbunden. Ich war sechzehn als er starb. Mit seinem Tod ging ein Ära definitiv zu Ende.) Lange & lange & lange lebte ich mit diesem melancholischen Wissen: irgendwann gab es mal etwas, das nie mehr zurückkehren würde.

Es dauerte eine wüste-weite-Ewigkeit bevor ich noch etwas feststellte, nämlich, dass irgendwo in meiner Melancholie auch ein Wunsch steckte, eine Sehnsucht, ein Verlangen nach der Rose. Ich nahm den Wunsch aber nicht ernst, weil ich meinte: dass es keinen Weg zurück geben werde. Ich verstand meine Sehnsucht also als die unerreichbare Rose selber. (Ist das nicht das Herz der sogenannten Modernität: eine Sehnsucht zu haben, die wir für unrealistisch halten? Womit wir also nichts tun haben wollen?)

Jetzt bin ich auf der Suche. Und pflege Rosen in meinem Garten in Köln. Letzte Woche noch hat sich – ich hatte gar nicht damit gerechnet – eine Rose entfaltet, ich nenne sie „die letzte Novemberrose“. Sie schwebt hoch in den Wind und scheint selbstbewusst zu sagen: „Ich trage dich weit in den Herbst hinein. Auch wenn du nicht mit mir rechnest, bin ich da“. Ich stelle mir den Song „Novemberrain“ von Guns N` Roses vor und verstehe die Rose in meinen Garten als ein Solo von Slash.

Ich bin auf der Suche nach vorne. Ich kehre also nicht zurück in die Vergangenheit. Ich versuche gar nicht, meine Erinnerungen aufzuwärmen. Ich versuche das Suchen zu verstehen als einen nächsten & vorsichtigen Schritt nach vorne in einer Liebesbeziehung, die schon lange existiert. Ich versuche mich delikat & unspektakulär & taktvoll & lauschend & spürend an die Rose neu heran zu tasten.

Diesmal werde ich die Rose erobern. Aber langsam.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

07.11.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (3)

In meinen letzten Blogbeiträgen habe ich zwei Zerrbilder von Rudolf Steiner beschrieben, die meines Erachtens einen freien Diskurs über seine Bedeutung verhindern. Beide Zerrbilder, so meine ich, hängen mit einer unausgesprochenen „Verlegenheit“ in Bezug auf das esoterische Denken Steiners zusammen. Wenn diese Verlegenheit keinen Raum bekommt, aus (falsch verstandener) Liebe, entsteht das erste Zerrbild – das zweite tritt in Erscheinung, wenn Hass der Grund dafür ist.

Beide Zerrbilder tragen dazu bei, dass die Bedeutung Rudolf Steiners nicht unbefangen bewertet werden kann. Ich meine, dass seine Arbeit gerade das braucht: eine freie & eben „lockere“ Bewertung. Seine – oft sehr ungewöhnlichen – Gedanken über dieses und jenes können erst dann in der Öffentlichkeit aufgenommen werden, wenn sie ideologisch unbelastet dargestellt und verstanden werden. Von mir aus dürfte man durchaus sagen: na ja, der Typ war manchmal vielleicht ein bisschen verrückt, es lohnt sich aber, sich mit seinen Gedanken auseinander zu setzen.

Und ich meine: Rudolf Steiner hätte nichts dagegen, so gesehen zu werden.

Todesernst & Schwere & Melancholie belasten sein Vermächtnis. Licht & Heiterkeit & Vertrauen sind aus seiner öffentlichen Aura fast komplett verschwunden. Für Freund und Feind ist Rudolf Steiner gerade die Gestalt geworden, die er nicht sein wollte: der dunkle Prophet im schwarzen Anzug. Das Spielerische & das Kindliche & das immer wieder neu im Kommen sein wollen – dieser Rudolf Steiner ist hinter den Zerrbildern verschwunden. (Ich meine: nur ein Spielfilm über seine Person könnte seine Gestalt retten. Jeremy Irons müsste dann die Hauptrolle spielen.)

Wie ist Rudolf Steiner als Esoteriker zu verstehen? Und was heißt das eigentlich: esoterisch denken? Ich werde es nicht schaffen, diese Fragen hier zu beantworten. (In meinem Buch „Mittendrin“ habe ich meine Ideen zu dieser Frage bereits dazu gegeben, und es gibt noch ein paar gute Texte mehr von anderen Leute darüber. Heute aber, und in meinen Worten von heute:

Das esoterische Denken wird durch die Annahme begründet, dass nicht nur das rational-begriffliche Denken ein vertrauensvoller Ausdruck unseres Willens zur Wahrheit ist. Im Grunde genommen werden alle seelischen Fähigkeiten (englisch: faculties) als Erscheinungen verstanden, die prinzipiell mit dem Wahrheitsempfinden zu tun haben. In unseren Traumbildern & Gefühlen & Sehnsüchten & Stimmungen & Intentionen & Intuitionen drückt sich der Wille zur Wahrheit aus.

Laut der frühe Friedrich Nietzsche hat Sokrates damit angefangen die Welt der Bilder (den Mythos) zu demontieren. Mit Sokrates fängt der schmale Weg des rational-begrifflichen Denkens an. Seitdem erlebt unser Wille zur Wahrheit Verlust nach Verlust. Was heute übrig geblieben ist, ist ein Denken der (wirtschaftlichen) Nützlichkeit. Die Götter sind tot, die Religion ist tot, die Moral ist tot, und als letztes droht auch noch die Kunst zu sterben. Die Kunst ist zur ästhetischen Beliebigkeit geworden.

Und das heißt: der Wille zur Wahrheit ist in einen engen Bunker hinter die Gestirne verwiesen worden. Das Herz denkt nicht mehr, Bauch und Knie (Joseph Beuys: „Ich denke sowieso mit meinem Knie“) schon gar nicht. Der Wahrheitsmensch ist ein rationales Gespenst geworden, das sich in Bezug auf die Wahrheit von seiner Seele und seinem Körper entfremdet hat. Der Körper ist keine empfindliche Erscheinung mehr, keine Landschaft-zum-Erwachen, sondern eine Maschine die uns „produziert“.

Es gab aber nicht nur Verluste. Der Weg von Sokrates bis zur Aufklärung (Descartes, Kant) brachte laut Rudolf Steiner auch einen großen Gewinn, nämlich: Freiheit. Im begrifflichen Denken macht der Mensch sich von der Gewalt-der-gegebenen-Bedeutungen frei. Der Mensch kann frei denkend zum Schöpfer werden.

Das Monopol des rational-begrifflichen Denkens führte aber, so meinte Steiner, zu neuen Unfreiheiten. Deswegen hat er dieses Monopol angegriffen, und zwar methodisch. Er hat sich bemüht, die verloren gegangenen Wahrheitsbezüge auf eine moderne Art und Weise neu zu greifen. Wenn er zum Beispiel von „Imagination“ spricht, geht es ihm darum, die Beziehung zur Wahrheit von „Bildern“ zu untersuchen. Er geht dabei so vor, dass er sich bemüht, die – oft sehr großen – Schritte, die er macht, auch begrifflich nachvollziehbar darzustellen.

Das ist ihm aber nicht immer gelungen. In seinen Texten & Vorträgen fliegen die Bälle oft so frei im Raum umher, dass man nicht mehr weiß, welches Spiel er eigentlich gerade spielt. Seine Begriffe & Imaginationen & Inspirationen & Intuitionen können so virtuos durcheinander spielen, dass einem der Überblick verloren geht.

Dazu kommt, dass er immer wieder & immer wieder neue Versuche gemacht hat. Für mein Verständnis ist das übrigens die schönste Seite von Rudolf Steiner: in dem im Kommen sein, war er nicht zu stoppen. Und seine Schwäche lag aber genau in diesem Umstand: er machte so viele Versuche, dass er sich um die Bewertung-im-Nachhinein nicht kümmern wollte & konnte. Er hat sehr viele – oft sehr interessante! - Aussagen einfach im Raum stehen lassen.

Und genau so wichtig ist: seine damaligen Zuhörer haben kaum nachgefragt. Man traute sich nicht, den großen „Eingeweihten“ kritisch zu hinterfragen. Ich meine aber, dass seine großartige Arbeit erst dann fruchtbar wird, wenn der Diskurs über seine Person & seine Bedeutung frei wird. Und das geht erst, wenn der Schützengrabenkrieg zwischen den zwei Zerrbildern aufhört.

01.11.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (2)

Zwei Zerrbilder, so meine ich, beherrschen den Diskurs über die Bedeutung & die Wirkung Rudolf Steiners. In meinem letzten Blogbeitrag habe ich versucht, das erste Zerrbild zu beschreiben – heute geht es um das zweite. Beide Zerrbilder, so habe ich letztes Mal geschrieben, hängen mit der Tatsache zusammen, dass Rudolf Steiner Esoteriker war.

Das zweite Zerrbild macht aus Rudolf Steiner einen Feind der offenen Gesellschaft. Er wird in diesem Bild als ein Guru verstanden, der verantwortungslos mit dem Begriff Wissenschaft umgeht. Rudolf Steiner behauptet wissenschaftlich zu arbeiten, macht das aber ganz und gar nicht. Einfach gesagt: er spinnt. Er redet von Karma & Reinkarnation & Atlantis & geistigen Hierarchien (Engeln, Erzengeln und so weiter) & Naturwesen. 

Er redet also über Dinge, die es nicht gibt. Darüber hinaus behauptet er, dass er „geisteswissenschaftliche“ Fähigkeiten habe, die weitaus die meisten anderen Menschen nicht haben, einfach weil sie „geistig“ noch nicht so weit sind. Und das heißt, dass aus seiner Sicht zwei Arten von Menschen vorhanden sind: Menschen die wissen und Menschen die nicht wissen. Für die offene Gesellschaft ist das eine klare Bedrohung.

Diese Gestalt von Rudolf Steiner ist nicht fassbar. Man kann ihm in Bezug auf konkrete Aussagen nicht widersprechen. Er hat ja immer Recht, weil er sich beliebig von der einen zur anderen „geistigen“ Ebene bewegt. Es ist in seinem Denken wie in einem Kaleidoskop: er dreht ein bisschen an seinem geistigen Rohr, und alles sieht in seiner Spiegelwelt auf einmal ganz anders und doch ganz gleich aus.

Dass dieser Rudolf Steiner auch rassistische Aussagen gemacht hat, ist eigentlich nicht so schlimm. Schlimmer ist, laut Zerrbild, dass er auch diesbezüglich ungreifbar ist, das heißt: die „Anthroposophen“ drehen die Sachen so, dass die Aussagen „wahr“ bleiben, und trotzdem ganz und gar nicht rassistisch sind. Nur Menschen die ihn nicht verstehen, machen Rassismus daraus.

Dieser Rudolf Steiner hat einen sonderbaren Bruch in seiner Biographie. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr war er noch ziemlich normal: er verfasste halbwegs vernünftige Texte über Goethe, Nietzsche, die Freiheit oder die Geschichte der Philosophie. Dann aber hat er sich auf einmal ein paar schwarze Stiefel und einen schwarzen Anzug gekauft, wurde Vorsitzender der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland und fing an von der Akasha-Chronik zu berichten.

Was da genau geschehen ist, wissen wir nicht, und müssen es auch nicht wissen. Vermutlich liegt hier ein psychologisches Bedürfnis vor: er wollte von seinen Anhängern grenzenlos bewundert und geliebt werden. Seit diesem Bruch aber hält er Vorträge & Vorträge & Vorträge, bis zum Gehtnichtmehr. Und die Inhalte der Vorträge wurden immer abenteuerlicher.

Dieser Rudolf Steiner ist megalomanisch. Er meint über alles & alles & alles Bescheid zu wissen. Landwirtschaft, Philosophie, Medizin, Politik, Pädagogik, Naturwissenschaft, Kunst, Architektur, Geschichte, Sprachwissenschaft, Ökonomie – es gibt kaum ein Fachgebiet, in dem er nicht versucht hat, sich als Reformer zu profilieren. 

Und die Krönung ist: Er hat ja auch noch eine Kirche begründet.

Diesen Rudolf Steiner zitiert man nicht. Höchstens liest man seine Werke ganz im Geheimen (weil er ja manchmal ganz ungewöhnliche Gedanken äußert, die einem weiterhelfen...). Durchaus besser ist es aber, ihn zu meiden, weil von seinem Denken irgendwie eine infektiöse Wirkung ausgeht. Über die Art dieser Wirkung braucht man sich keine Gedanken zu machen, so wie man das mit Pornographie ja auch nicht macht. Über Rudolf Steiner sollte man besser schweigen.

Auch dieses zweite Zerrbild beinhaltet einen Widerspruch. Einerseits scheint dieser Rudolf Steiner eine Gefahr für die offene Gesellschaft zu sein. Eigentlich müsste man seine Ansätze also widerlegen wollen & müssen & dürfen. Anderseits lässt man sich auf seine Gedanken nicht ein, gerade weil er so völlig daneben ist. Über diesen Rudolf Steiner braucht man sich keine seriösen Gedanken zu machen, weil doch klar ist, dass er irgendwann angefangen hat zu spinnen.

Zur Wissenschaft gehört aber, dass man sich über alles klare Gedanken macht. Auch an dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht eine Verlegenheit, genau so wie beim ersten Zerrbild: wenn Rudolf Steiner von den geistigen Erkenntnisfähigkeiten spricht – er redet von Imagination & Inspiration & Intuition, und zwar systematisch und ausführlich – ist man überfordert. Seine Denkvorgänge überstrapazieren die üblichen wissenschaftlichen Episteme.

Und deswegen wird dieser Rudolf Steiner in der öffentliche Gesellschaft richtig gehasst. So wie im ersten Zerrbild Wahrheit und unfreie Liebe vermischt werden, spielen im zweiten Wahrheit und unfreier Hass eine entscheidende Rolle. Obwohl die beiden Zerrbilder weit von einander entfernt scheinen und eben zum Schützengrabenkrieg führen, sind sie im Grunde genommen sehr ähnlich. Sie basieren beide auf einer Verlegenheit in Bezug auf das esoterische Denken von Rudolf Steiner.

Über das esoterische Denken von Rudolf Steiner das nächste Mal mehr.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur