01.11.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (2)

Zwei Zerrbilder, so meine ich, beherrschen den Diskurs über die Bedeutung & die Wirkung Rudolf Steiners. In meinem letzten Blogbeitrag habe ich versucht, das erste Zerrbild zu beschreiben – heute geht es um das zweite. Beide Zerrbilder, so habe ich letztes Mal geschrieben, hängen mit der Tatsache zusammen, dass Rudolf Steiner Esoteriker war.

Das zweite Zerrbild macht aus Rudolf Steiner einen Feind der offenen Gesellschaft. Er wird in diesem Bild als ein Guru verstanden, der verantwortungslos mit dem Begriff Wissenschaft umgeht. Rudolf Steiner behauptet wissenschaftlich zu arbeiten, macht das aber ganz und gar nicht. Einfach gesagt: er spinnt. Er redet von Karma & Reinkarnation & Atlantis & geistigen Hierarchien (Engeln, Erzengeln und so weiter) & Naturwesen. 

Er redet also über Dinge, die es nicht gibt. Darüber hinaus behauptet er, dass er „geisteswissenschaftliche“ Fähigkeiten habe, die weitaus die meisten anderen Menschen nicht haben, einfach weil sie „geistig“ noch nicht so weit sind. Und das heißt, dass aus seiner Sicht zwei Arten von Menschen vorhanden sind: Menschen die wissen und Menschen die nicht wissen. Für die offene Gesellschaft ist das eine klare Bedrohung.

Diese Gestalt von Rudolf Steiner ist nicht fassbar. Man kann ihm in Bezug auf konkrete Aussagen nicht widersprechen. Er hat ja immer Recht, weil er sich beliebig von der einen zur anderen „geistigen“ Ebene bewegt. Es ist in seinem Denken wie in einem Kaleidoskop: er dreht ein bisschen an seinem geistigen Rohr, und alles sieht in seiner Spiegelwelt auf einmal ganz anders und doch ganz gleich aus.

Dass dieser Rudolf Steiner auch rassistische Aussagen gemacht hat, ist eigentlich nicht so schlimm. Schlimmer ist, laut Zerrbild, dass er auch diesbezüglich ungreifbar ist, das heißt: die „Anthroposophen“ drehen die Sachen so, dass die Aussagen „wahr“ bleiben, und trotzdem ganz und gar nicht rassistisch sind. Nur Menschen die ihn nicht verstehen, machen Rassismus daraus.

Dieser Rudolf Steiner hat einen sonderbaren Bruch in seiner Biographie. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr war er noch ziemlich normal: er verfasste halbwegs vernünftige Texte über Goethe, Nietzsche, die Freiheit oder die Geschichte der Philosophie. Dann aber hat er sich auf einmal ein paar schwarze Stiefel und einen schwarzen Anzug gekauft, wurde Vorsitzender der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland und fing an von der Akasha-Chronik zu berichten.

Was da genau geschehen ist, wissen wir nicht, und müssen es auch nicht wissen. Vermutlich liegt hier ein psychologisches Bedürfnis vor: er wollte von seinen Anhängern grenzenlos bewundert und geliebt werden. Seit diesem Bruch aber hält er Vorträge & Vorträge & Vorträge, bis zum Gehtnichtmehr. Und die Inhalte der Vorträge wurden immer abenteuerlicher.

Dieser Rudolf Steiner ist megalomanisch. Er meint über alles & alles & alles Bescheid zu wissen. Landwirtschaft, Philosophie, Medizin, Politik, Pädagogik, Naturwissenschaft, Kunst, Architektur, Geschichte, Sprachwissenschaft, Ökonomie – es gibt kaum ein Fachgebiet, in dem er nicht versucht hat, sich als Reformer zu profilieren. 

Und die Krönung ist: Er hat ja auch noch eine Kirche begründet.

Diesen Rudolf Steiner zitiert man nicht. Höchstens liest man seine Werke ganz im Geheimen (weil er ja manchmal ganz ungewöhnliche Gedanken äußert, die einem weiterhelfen...). Durchaus besser ist es aber, ihn zu meiden, weil von seinem Denken irgendwie eine infektiöse Wirkung ausgeht. Über die Art dieser Wirkung braucht man sich keine Gedanken zu machen, so wie man das mit Pornographie ja auch nicht macht. Über Rudolf Steiner sollte man besser schweigen.

Auch dieses zweite Zerrbild beinhaltet einen Widerspruch. Einerseits scheint dieser Rudolf Steiner eine Gefahr für die offene Gesellschaft zu sein. Eigentlich müsste man seine Ansätze also widerlegen wollen & müssen & dürfen. Anderseits lässt man sich auf seine Gedanken nicht ein, gerade weil er so völlig daneben ist. Über diesen Rudolf Steiner braucht man sich keine seriösen Gedanken zu machen, weil doch klar ist, dass er irgendwann angefangen hat zu spinnen.

Zur Wissenschaft gehört aber, dass man sich über alles klare Gedanken macht. Auch an dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht eine Verlegenheit, genau so wie beim ersten Zerrbild: wenn Rudolf Steiner von den geistigen Erkenntnisfähigkeiten spricht – er redet von Imagination & Inspiration & Intuition, und zwar systematisch und ausführlich – ist man überfordert. Seine Denkvorgänge überstrapazieren die üblichen wissenschaftlichen Episteme.

Und deswegen wird dieser Rudolf Steiner in der öffentliche Gesellschaft richtig gehasst. So wie im ersten Zerrbild Wahrheit und unfreie Liebe vermischt werden, spielen im zweiten Wahrheit und unfreier Hass eine entscheidende Rolle. Obwohl die beiden Zerrbilder weit von einander entfernt scheinen und eben zum Schützengrabenkrieg führen, sind sie im Grunde genommen sehr ähnlich. Sie basieren beide auf einer Verlegenheit in Bezug auf das esoterische Denken von Rudolf Steiner.

Über das esoterische Denken von Rudolf Steiner das nächste Mal mehr.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
vielen Dank für das Zerrbild. Eine Frage: beschreibst du das Zerrbild R.S., oder das, was die Menschen machen, denn: mir begegnet immer wieder, dass es "gute/ wahre etc." Anthroposophen gibt und welche, die keine Ahnung haben, ganz zu schweigen von der grauen Masse der, ja, spitz gesagt vollkommen ahnungslosen, die gerne auch ohne mildes Lächeln ins Abseits katapultiert werden. Berufen sich die "Wahren" dann also auf Steiner? Und damit entspannt sich doch ein riesen Bogen - auch im Namen des Kreuzes sind schwer verdauliche Kriege geführt worden...und wo führt sich da was ad absurdum? herzlich Kat

Anak hat gesagt…

lieber jelle, du schreibst: "So wie im ersten Zerrbild Wahrheit und unfreie Liebe vermischt werden, spielen im zweiten Wahrheit und unfreier Hass eine entscheidende Rolle. Obwohl die beiden Zerrbilder weit von einander entfernt scheinen und eben zum Schützengrabenkrieg führen, sind sie im Grunde genommen sehr ähnlich. Sie basieren beide auf einer Verlegenheit in Bezug auf das esoterische Denken von Rudolf Steiner."
rudolf steiner selber hat ja nun letztendlich auch eine bewusstseinsentwicklung durchmachen muessen.
seine weisheit und sein wissen war immer mit einer tiefen liebe verbunden. das entwickeln und vor allem leben der absoluten, wahren liebe lag aber sicher im letzten lebensabschnitt und damit eben der austritt aus dem dualistischen denken. waeren seine ganzen werke geschrieben in dieser bewusstheit, dann waere dieser spalt, diese trennung zwischen hass-liebe nicht enstanden.
in sebastians buch springt mir folgendes entgegen: ...kern der anthroposophie...: weisheit und barmherzigkeit (s.193).
also weisheit in absoluter liebe und mitgefuehl.
kann man in dieser weisheit und liebe schreiben/sprechen, wird es schwer, diese dinge zu missbrauchen. es haengt natuerlich auch davon ab, in welcher geistigen verbindung der leser/zuhoerer/schueler sich befindet, aber worte in dieser gemuetslage sind "heilig" und fern jeder kritik und verurteilung. jedoch weisheit und wissen ohne herz kann in der anwendung grausam sein. hier gibt es natuerlich viele zwischenstufen, abhaengig von den unterschiedlichsten bewusstseinstufen aller beteiligten/betroffenen personen.
herzlichst
anka

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe "Kat" und liebe Anka: mit den beiden Zerrbilder sind Bilder gemeint, die Ganz bestimmte Menschen von Rudolf Steiner haben. Ganz vielen Menschen haben kein Zerrbild, gar kein Bild, oder ein "wahres-offenes-reales" Bild. Mir geht es eigentlich nur darum, zu zeigen, dass die beiden Zerrbilder den Diskurs in die Öffentlichkeit bestimmen. Ja, ich meine auch, dass Rudolf Steiner daran beigetragen hat, dass die Zerrbilder entstanden sind. Im manicheistische Sinne: kein Licht ohne Schatten (und bekanntlich ist auch das Umgekehrte wahr: keine Schatten ohne Licht). Herzlich, Jelle