27.12.2008

Die zwölf heiligen Nächte in postmodernen Zeiten. Über einen Eichelhäher

In den Nächten zwischen Weihnachten und Dreikönig, so besagt die Tradition, stehen die Türen zur geistigen Welt offen. Deswegen wird von den „heiligen“ Nächten gesprochen. In dieser Zeit wäre es besonders wichtig auf die Träume & Stimmungen & Eingebungen, die wir aus der Nacht bekommen, zu achten. Es ginge vor allem auch darum, offen für Unerwartetes zu sein.

In einigen östlichen Ländern wird von der „ungetauften“ Zeit gesprochen, weil das Kind Jesus erst mit der Ankunft der drei Könige (eigentlich Magier, oder vielleicht sogar „Wissenden“) getauft wird. Auch gibt es Gegenden wo interessanterweise von den zwölf „rauen“ Nächten gesprochen wird. Ein sehr schönes Bild – ich weiß leider nicht woher es kommt – ist das, in dem die Zeit der zwölf Nächte als „die Fontanelle des Jahres“ beschrieben wird.

Zwischen Weihnachten und Dreikönig sind wir im Kommen. Das Kindliche ist erschienen, das Licht wird wieder stärker, und in der Mitte dieser Zeit erleben wir den „Rutsch“ ins neue Jahr. Und offensichtlich gibt es eine enge Verbindung zwischen „neu“ und „geistig“. Dadurch, dass die Türen zur geistigen Welt geöffnet sind, können wir über unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen eine bewusste Beziehung zum Kommenden finden.

Was ist hier mit „geistig“ gemeint? Friedrich Nietzsche würde an dieser Stelle dieses Wort gerade nicht benutzen und eher von dem „Ungeheuren“ sprechen. Er meinte damit das große Unbekannte, den riesigen Ozean der nicht eingeordneten Empfindungen, die tausend und abertausend Rätsel der Welt und des Lebens, die uns umschlingen. Gerade wenn ein kleines bisschen Licht da herein kommt, wird das Ungeheure sichtbar. (Das Licht wirft Schatten – tatsächlich ein rauer Vorgang.)

Auch Martin Heidegger würde das Wort „geistig“ vermeiden. Er würde sagen: was wir vom Leben meinen zu verstehen, erklärt uns das Sein nicht. Die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden (= was wir meinen für uns eingeordnet zu haben) eröffnet einen Abgrund. Und das Erleben dieses Abgrundes führt zur Philosophie oder Kunst oder Religion. (Die großen Drei: das Wahre, das Schöne, das Gute.)

Hannah Arendt hingegen würde sagen: wir betreten das Geistige & das Ungeheure & das Abgründige dadurch, dass wir auf Natalität setzen. Der Mensch hat nicht nur die Sicherheit, dass er sterben wird – er hat auch die Sicherheit, dass er jeden Tag wieder neu geboren werden kann. Das geschieht aber nicht von alleine. Gerade dadurch, dass er sich aktiv anfreundet mit dem Im-Kommen-sein und sich diesbezüglich als Schöpfer der Welt versteht, ist er Mensch.

In postmodernen Zeiten wird das Kind (in uns, in der Welt) nur geboren, wenn wir es wollen. Ja, ein erster Schritt bleibt: lauschen & lauschen & lauschen was das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige uns zu sagen haben. Besonders während der zwölf heiligen Nächte bleibt deswegen die schöne und freiwillige Aufgabe, auf unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen zu achten.

Genau so wichtig sind aber die Vorsätze & Entscheidungen. Oder anders gesagt: das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige lässt uns keine Zeit zwischen lauschen & sprechen, verstehen & handeln zu trennen. Ein richtig verstandener Traum ohne einen Vorsatz oder eine Entscheidung, ist eine Illusion. (Ja klar, auch Illusionen brauchen wir!)

Als ich heute früh aufwachte und mich an meinen Schreibtisch setzte, erschien nach einer Weile in meinem Garten ein Eichelhäher. Er war scheu wie ein Botschafter der Nacht. Einen kurzen Moment saß er auf einem Geländer, etwa zwei Meter von meinem Fenster entfernt. Er guckte & guckte – sein stolzer Kopf zick-zackte hin und her, so wie nur Vögel das machen können. Und ich dachte: er will nur sicher sein, dass ich ihn wahrgenommen habe. Dann flog er wieder fort.

Eichelhäher gab es auch in Arnheim, wo ich aufgewachsen bin. In Holland heißen sie „Vlaamse gaaien“, also etwa: Häher aus Flandern. Ich habe das als Kind lange so verstanden, dass der Vlaamse Gaai tatsächlich in Flandern lebte, und - warum auch immer - gelegentlich nach Arnheim kam, um mich zu begrüßen. Ein bisschen verwirrend war immer, dass er sofort wieder verschwand.

Noch immer ist es so, dass ich an Belgien denken muss, wenn ein Eichelhäher auftaucht. Und auch ist es noch immer so, dass ich mich geehrt fühle, weil dieser wunderschöne & stolze Vogel eine lange Reise gemacht hat, um gerade mich zu begrüßen. Und auch ist es noch immer so, dass ich denke: schade, dass er sofort wieder weiter fliegt.

Vögel die uns begrüßen, sind Botschafter der Nacht. Und heute denke ich: der Eichelhäher erinnert mich daran, dass es mich freut zu merken, dass ich begrüßenswert bin. Ich mag es, begrüßenswert zu sein. Wäre das nicht ein guter Vorsatz für das nächste Jahr: begrüßenswert zu sein? Was das beinhaltet, überlässt der Eichelhäher mir. Ich soll das von mir aus gestalten.

(Und vielleicht wird nächstes Jahr mal eine Eule kommen, um zu schauen, was ich daraus gemacht habe.)

22.12.2008

TEXT MIT TITEL

Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe. Über diesen Text wäre jetzt schon zu sagen, dass er selbstverständlich Wörter beinhaltet, und dass das Thema des Textes der Text ist. Auch ich bin in diesem Text vorhanden, weil ich geschrieben habe: „Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe“.

Der Anzahl der Wörter dieses Textes beträgt gerade vierundfünfzig. Und jetzt sind noch neun dazu gekommen. Der Leser befindet sich bezüglich der Anzahl der Wörter in einer anderen Lage als ich, der Verfasser, weil er mit einem Augenaufschlag sehen kann, dass noch mehrere Wörter folgen – bei mir ist der Rest der Seite noch leer.

Für uns beide, für mich und für den Leser, ist der Text im Kommen. Wir beide sind gerade da wo wir sind, nämlich an dieser Stelle, hier und jetzt, und kreieren den Text. Der Text existiert nicht ohne mich (klar: ich verfasse den Text) und den Leser (klar: ein Text, der nicht gelesen wird, ist kein Text).

Aber genau so klar: Ohne Wörter kein Text.

Die Wörter dieses Textes kommen in mir hoch. Sie erscheinen. Manchmal muss ich erst suchen – ich warte dann beim Schreiben, schaue aus meinem Fenster und sinne nach. Ich prüfe die Wörter, die sich anbieten, lasse manche wieder los, entscheide mich. Jetzt entscheide ich mich für „Vögel“, und schreibe: die Wörter sind wie Vögel, die angeflogen kommen.

Der Leser liest also: die Wörter sind wie Vögel, die angeflogen kommen. Und er kreiert den Text dadurch, dass er sich die Wörter wie Vögel vorstellt: sie kommen angeflogen... Vielleicht denkt der Leser noch dazu: „Erst wenn die Vögel sich auf die Fensterbank setzen, erscheinen sie definitiv im Text“. Das wäre eine wunderschöne Erweiterung des Bildes.

Diese Erweiterung des eben entstandenen Bildes habe ich aber jetzt selber kreiert. Zu diesem Text gehört also auch die Tatsache, dass ich mir als Verfasser vorstelle, was der Leser denken könnte und seine möglichen Vorstellungen in den Text einbringe.

Und so ist es: der Leser ist immer da. Wenn ich das Spielfeld des Textes mit den zehn Wörtern öffne: „Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe“ (der Text zitiert sich jetzt selber!), stelle ich mir sofort vor, was der Leser denken & fühlen & wollen könnte. Denkt er: „Na ja, ein komischer Satz!“? Fühlt er: „Der Satz ist mir unsympathisch!“? Und will er trotzdem weiter lesen?

(Wenn der Leser es will, hört er jetzt auf. Oder jetzt. Oder jetzt... Wenn der Leser tatsächlich aufhört, bleibt der Text unvollständig.)

Der Leser existiert natürlich nicht. Es wird – aus meiner Sicht als aktueller Verfasser gesehen – eine Menge Leser geben, vielleicht hundert, vielleicht dreihundert, vielleicht tausend. Und ich habe keine Ahnung davon, was die Leser denken & fühlen & wollen werden. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass es – aus meiner Sicht als aktueller Verfasser gesehen – einen ganz bestimmten Leser gibt, der wie ein Vogel auf der Fensterbank erschienen ist, als ich den ersten Satz geschrieben habe.

Dieser Leser ist eine Leserin. (Das ist unterschwellig auch ein Thema in diesem Text: die deutsche Sprach-Gewohnheit von LeserInnen zu sprechen. Ich muss jetzt an Franz Müntefering denken, der in seinen Reden ständig korrekt sagt: Liebe Genossinnen und Genossen... In holländischen und englischen Ohren klingt das so, als ob der Unterschied zwischen Frauen und Männern immer wieder betont werden muss.)

Also, eine Leserin. Nur halbwegs verstehe ich, warum gerade sie auftauchte, als ich geschrieben habe: „Dieser Text handelt von diesem Text, den ich gerade schreibe“. Sie ist eine junge Waldorferzieherin (sic!), beschäftigt sich gerne mit philosophischen Lebensfragen, kann richtig-richtig denken und mag alles, was mit Sprache zu tun hat. Und weil der erste Satz dieses Textes vor allem auf der semantischen Ebene interessant ist – er bezieht sich solipsistisch auf sich selber – habe ich an sie gedacht. Sie könnte eine Leserin sein, die Spaß an diesem Satz hat. Ich nenne sie für heute Virginia (ja, wegen Woolf).

Dieser Text ist also eine Art Dialog. Der Anfang des Dialogs liegt in der nachdenklichen Stille nach dem ersten Satz. Die zwei Gesprächspartner (?) des Dialogs heißen Virginia und „ich“. Wer ist mit „ich“ gemeint? Es liegt natürlich vor der Hand zu denken, dass „ich“ sich auf „mich“ bezieht, das heißt auf „Jelle van der Meulen“. Das stimmt aber nicht. Ich nenne dieses Ich nämlich für heute Samuel (ja, wegen Coleridge).

Das oben gemeinte „ich“ ist ein Aspekt von mir, ein Subjekt, das immer wieder entsteht, wenn „ich“ („Jelle van der Meulen“) einen Text schreibe. Ich bin aber nicht ich, ich bin ja mittlerweile Samuel geworden, weil ich (Jelle? Samuel?) mich eben gerade so genannt habe. Und so ist das mit diesem und mit vielen anderen Texten: sie kreieren verzwickte Bedeutungen. Samuel Taylor Coleridge nannte das: Poesie.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

20.12.2008

Behinderung als Schicksal (3). Über Fähigkeiten & Begabungen

Was ist eine Behinderung? Ich würde sagen, dass man behindert ist, wenn man etwas nicht tun kann, was weitaus die meisten anderen Menschen können. Wenn jemand zum Beispiel nicht sehen oder hören oder gehen kann, hat sie oder er eine Behinderung. Das gilt genauso für die „mentalen“ und „sozialen“ Fähigkeiten (englisch: faculties): es gibt Menschen die nicht denken, oder fühlen, oder wollen, oder sprechen, oder Gewohnheiten einschätzen, oder hinter-die-Wörter hören können. Auch diese Menschen sind behindert.

Bin ich behindert? Nach meiner Beschreibung nicht. Es gibt nichts, was ich nicht tun kann, was weitaus die meisten Menschen tun können. In dieser Hinsicht bin ich „normal“. Trotzdem gibt es ein paar Sachen, die ich sehr-sehr-sehr gerne tun möchte, wozu ich aber leider nicht die Fähigkeiten habe. Viel Schmerz hat mir zum Beispiel die Tatsache bereitet, dass ich nicht richtig Musik machen kann.

Musik bedeutet mir alles. Genauso wie Friedrich Nietzsche kann ich mir ein Leben ohne Musik gar nicht vorstellen. (Nein, Richard Wagner habe ich nie gemocht. Meine Helden heißen Beefheart & Zappa & Coltrane & Davis & Co.) In meiner Seele gibt es ein Zimmer, in dem ich mit mir & für mich so ungefähr alles „unbehindert“ machen & improvisieren kann, was es zu machen & zu improvisieren gibt: Rock & Blues & Jazz. Ich schaffe es aber ganz & gar nicht, diese innere Musik auch äußerlich hörbar zu „produzieren“. Wenn ich Gitarre spiele oder singe, klingt es unbeholfen.

Und das erlebe ich als eine Behinderung. Die innere Musikalität lässt sich aus irgendeinem Grund nicht nach außen umsetzen. (Ich würde sagen, weil mein Körper nicht mitmacht.) Von einer Behinderung kann diesbezüglich aber nicht gesprochen werden, weil ja weitaus die meisten Menschen diese Fähigkeit gerade NICHT haben. Wenn jemand richtig Musik machen kann, sprechen wir deswegen von einer Begabung.

Behinderung und Begabung haben etwas gemein. Sie sind beide nicht „normal“.

Bernard Lievegoed, der Pionier der anthroposophisch-heilpädagogischen Bewegung in Holland, erzählte mir einmal, dass er sehr-sehr-sehr gerne Musiker geworden wäre. (Seine Helden waren eher Bach & Brahms & Schubert.) Weil er aber nicht richtig musizieren konnte, hat er realistischerweise darauf verzichtet. Und deswegen, so meinte er, hat sich seine Orientierung verschoben und er hat sein Leben der Anthroposophie gewidmet. Der zwangsläufige Verzicht auf Musik öffnete ihm also den Weg zur Geisteswissenschaft. Und niemand wird bestreiten, dass Lievegoed als Anthroposoph sehr begabt war.

Eine Behinderung ist also als ein „zwangsläufiger Verzicht“ zu betrachten. Nun ist dieser doppelte Begriff natürlich widersprüchlich, weil ein Verzicht eine Wahl bedeutet und deswegen nicht ganz zwangsläufig sein kann. Ein Mensch der nicht gehen, denken oder sprechen kann, hat sich dafür nicht entschieden und ist ja eher, wie Martin Heidegger sagen würde, in den Umstand der Behinderung „geworfen“ worden.

Entscheidend für das anthroposophische Denken über Behinderung ist aber gerade der Gedanke, dass ein Entschluss vorliegt, der allerdings vor der Geburt getroffen worden ist. Laut Rudolf Steiner gestaltet der Mensch sein eigenes Leben – er wirft sich selber in die spezifischen Umstände seines Lebens. Warum? Weil er dadurch zu spezifischen Fähigkeiten & Begabungen & Eigenschaften gelangt. Dadurch, dass wir uns nach der Geburt nicht bewusst an den vorgeburtlichen Entschluss erinnern können, erleben wir die Umstände unseres Lebens als zwangsläufig.

(Die einzige Erinnerung die da ist, nennen wir „Ahnung“. Wir spüren, dass gewisse Umstände etwas mit uns zu tun haben, d.h. nicht willkürlich auf uns zu kommen. Interessant an dieser Stelle ist, dass Steiner die Ahnung, genauso wie Plato, als eine wichtige Tür-zum-Wissen versteht. Seinen Ahnungen nachzugehen & sie zu untersuchen & zu prüfen führt, laut Rudolf Steiner, zu einem Wissen-von-sich-Selbst. In einer Kultur des Herzens werden Ahnungen ernst genommen.)

Noch ganz abgesehen davon, ob wir uns mit dem Gedanken eines vorgeburtlichen Entschlusses anfreunden können, scheint mir eine fruchtbare Frage zu sein: Wenn jemand nicht gehen, oder nicht sprechen, oder nicht denken kann, oder nicht ... zu welchen Fähigkeiten & Begabungen & Eigenschaften führt denn das? Könnte diesbezüglich eine Art Phänomenologie der Wirkungen der Behinderungen entstehen, die unsere Bewertungen vom defizitären Denken befreit?

Eine Phänomenologie der Wirkungen von Behinderung könnte nur aus konkreten Beschreibungen bestehen. Ich meine, dass ein paar von solchen Beschreibungen schon in den Kommentaren zu meinen zwei Blogs der letzten Wochen zu finden sind. Ich würde mich freuen, wenn noch mehr Erfahrungsberichte folgen.

13.12.2008

Behinderung als Schicksal (2). Über die stumme Sprache

Mein Bruder Mark ist gelähmt & lebt im Rollstuhl. Sprechen kann er kaum. Er kann „Koffie“ sagen, und meint damit, dass er gerne eine Tasse Kaffee hätte. Auch sagt er klar „ja“ & „nein“, nennt manche Menschen bei ihrem Vornamen, und macht klipp und klar deutlich, dass er jetzt abhauen möchte. Ein herkömmliches Gespräch ist mit Mark nicht möglich.

Weil er gelähmt ist, ist auch seine Körpersprache beschränkt. Seinen Gang kennen wir nicht, weil er nicht laufen kann. Er bewegt seinen linken Arm nur, um etwas in die Hand zu nehmen, zum Beispiel ein Stück Kreide. Wenn er „Koffie“ oder „ja“ oder „nein“ sagt, sprechen sein Arm und seine Hand kaum mit.

Aber sein Kopf spricht. Die Art und Weise mit der Mark sein Haupt schief nach vorne oder schief nach hinten biegt, wirkt so, als ob er intensiv lauscht. Manchmal schaut er lange nach oben, scheint zu lauschen & zu lauschen – und ich denke dann: was hört er eigentlich? Und dann trifft er eine Entscheidung, macht sich von dem Lauschen los und biegt sich nach vorne. Genug gelauscht?

Sein Lauschen bezieht sich nicht auf die Geräusche um ihn herum. Er scheint nicht auf den Klang der Stimmen, des Fernsehens oder des Kommens & Gehens der Menschen zu hören. Er scheint in sich hinein zu hören, wobei dieses in-sich-hinein-hören nicht ein nach innen, sondern ein nach außen hören bedeutet. Es ist, als ob sich seine Innenwelt nach außen gestülpt hat und wie eine glänzende Glasglocke um ihn herum befindet.

Sein Kopf spricht eine Sprache, die mich sprachlos macht. Und das gilt noch stärker für seinen Blick. Wenn ich versuche in Worte zu fassen, was in seinen Augen lebt, stelle ich fest, dass die üblichen Worte nichts sagen. Gibt es Unruhe in seinem Blick? Nein. Ruhe? Auch nicht. Wut? Gar nicht. Zufriedenheit? Auch nicht. Freude? Nein. Kummer? Nein.

Wenn es ein Wort gibt, dass die Wirkung seines Blickes halbwegs beschreibt, wäre es: Frage. Mark schaut wie er lauscht: wie eine offene Frage. In seinem Blick erscheint eigentlich gar nichts Bestimmtes – obwohl er bestimmt etwas Bestimmtes sieht, so wie ein Stück Kreide. Es ist aber so, als ob die Gegenstände in seinen Augen verschwimmen, peripher werden, in einem Umkreis aufgehen und „weg projektiert“ werden.

Sein Blick scheint etwas zu suchen, was auf der Ebene der Gegenstände nicht zu finden ist. Es mag unwahrscheinlich klingen: sein Blick sucht Zusammenhänge & Verbindungen & Korrespondenzen, die nur sichtbar werden, wenn man auf Kontur verzichtet. Und gerade im Akt des Verzichts hat sein Blick eine kräftige Präsenz. Der Blick ist da – und immer wieder muss man ihm in die Augen schauen und sich fragen: was sieht er, was erlebt er, was bewegt ihn?

So sieht sein Blick in meinen Augen aus. Nun ist die Frage, inwieweit meine Wahrnehmungen & Gedanken & Gefühle wirklich etwas mit Mark zu tun haben. Manchmal denke ich: Jelle, du spinnst, wenn du so etwas denkst & sagst & schreibst. Die Gedanken, die du an deinen „Beobachtungen“ fest machst, sind reine poetische Spekulationen.

(Nun bezieht sich diese Frage natürlich nicht nur auf Mark. Ganz generell ist die Frage: wenn ich auf eine menschliche Gestalt schaue & wenn ich versuche einen Blick zu „lesen“ - inwieweit dringe ich dann wirklich zu einem Menschen vor? Ist an dieser Stelle die phänomenologische Vorgehensweis berechtigt? Oder bilde ich mir lediglich etwas ein?)

Was allerdings bleibt, ist Marks Blick. Ich kann nicht darum hin, dass es diesen Blick gibt. Und ich kann auch nicht verneinen, dass der Blick mich immer wieder trifft, oder besser gesagt: nicht trifft und deswegen trifft. Sein Blick erscheint mir wie ein Rätsel. Die Tatsache, dass Mark mir nicht in Worten mitteilen kann, was in ihm vorgeht, trägt noch an das Rätsel bei. Ich kann ihn nicht fragen, was in seiner Innenwelt vorgeht.

Übrigens hat es seltene Momente gegeben, in denen sein Blick mich wirklich getroffen hat & er meinen Blick sozusagen „erwidert“ hat. In diesen Momenten erlebte ich das Rätsel-der-offenen-Frage wie gesteigert & nicht überschaubar vertieft, ja unerträglich präsent. In diesen Momenten musste ich meinen Blick abwenden. In meiner Innenwelt erzeugte dieser Blick eine tiefe Berührung. Der einzige Gedanke den ich hatte, war: „Etwas in diesem Blick ist da, was sich nicht Mark nennt“.

So lange ich auf Worte angewiesen bin, bleibt Marks Innenwelt ein geschlossenes Buch für mich. Mit Walter Benjamin: Um Innenwelten zu verstehen, müssen wir uns der stummen Sprache zuwenden. Benjamin meinte aber auch, dass wir in der modernen Zeit verlernt haben, die stumme Sprache zu lesen & zu verstehen & in Worte zu fassen.

Behinderung und Sprache ist ein großes Thema. Manche behinderte Menschen – so wie auch mein Bruder Mark – stoßen uns in die Sprachlosigkeit. Und weil wir die stumme Sprache nicht lesen können, erscheint vor uns ein Abgrund. Und der Abgrund – das scheinbar bedeutungslose Nichts – macht Angst. Ich meine, dass eine Kultur des Herzens gerade dort beginnt, wo wir anfangen über Sachen zu sprechen, über die wir nicht reden können.

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur

07.12.2008

Behinderung als Schicksal (1). Über so und nicht so

Ich habe zwei behinderte Brüder. Als der erste, er heißt Mark, geboren wurde, war ich fünfzehn Jahre alt. Der zweite, Martijn, kam ein paar Jahre später auf die Welt, als ich gerade auf dem Weg war, mein Elternhaus zu verlassen. Mark ist gelähmt: er kann die rechte Hälfte seines Körpers nicht benutzen und verbringt sein Leben im Rollstuhl. Er spricht keine zusammenhängenden Sätze und scheint sich seines Zustands nicht bewusst zu sein.

Erste Frage: Ist es wirklich so, dass er keine Ahnung von sich hat? Wie stellen wir das fest?

Mein zweiter behinderter Bruder, Martijn, hat das Down-Syndrom. Er ist durchaus glücklich, arbeitet in einer „Stadtfarm“ in Utrecht und hat schon lange eine Freundin. Manchmal kann er sehr launisch sein. Als vor zwei Jahren meine Mutter starb, weigerte er sich zur Beerdigung zu kommen, weil er meinte, dass sie nicht hätte sterben dürfen.

Mark und Martijn sind die jüngsten von insgesamt acht Kindern. (Ich bin der Älteste.) Vor allem die Geburt Marks war ein Bruch in meinem Leben. Auf einmal wurde mir deutlich, dass das Leben nicht immer zu stimmen scheint. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie Mark kurz nach der Geburt in seiner Wiege lag. Sein rechtes Händchen lag unmöglich gedreht auf der Decke, und die Züge seines Gesichts sahen aus wie eine schief gezogene Maske. Ich war erschüttert.

Und meine Eltern waren ratlos. Mein Vater war streng evangelisch, meine Mutter eher locker religiös - beide konnten aber nicht verstehen, was Gott mit Mark vorhatte. Weil Gott keine Fehler machen kann, konnte es nur um eine Strafe gehen. Wen aber betraf diese Strafe? Meine Eltern? Oder Mark? Falls es sich um Mark handelte, wofür wurde er dann bestraft? Und falls es um meine Eltern ging, war Mark dann ein reines „Instrument“ um seine Eltern zu treffen?

Diese Fragen waren nicht zu beantworten. Und so bin ich ein paar Jahre später ausgezogen: mit Fragen die nicht zu beantworten waren. Bei mir hatten diese Fragen aber nichts mit Religion und Moral tun. Gott hatte ich abgehakt und Moral war sowieso nicht mein Ding. Ich stellte mir damals eher die Frage, warum Behinderung uns erschüttert.

Körperliche und seelische Behinderungen werden als Ausnahme verstanden. Jemand der behindert ist, gilt als nicht normal. Um aber sagen zu können, was normal und was nicht normal ist, braucht man eine Norm. Offensichtlich beruht der Gedanke der Abnormalität auf der unmittelbaren Erfahrung, dass die meisten Menschen SO und NICHT SO sind. Aus irgendeinem Grund scheint es wichtig zu sein, SO zu sein, wie die meisten Menschen sind.

Dazu kommt, dass der Begriff Behinderung oft lediglich in einem medizinischen Zusammenhang gedacht wird: heilpädagogisch oder psychiatrisch. Behinderte Menschen müssen deswegen betreut, versorgt und – wenn möglich – behandelt werden. Mein Bruder Mark lebt in einer sozial-“therapeutischen“ Einrichtung (und kriegt jeden Tag heftige Medikamente, die dafür sorgen, dass er keine „Anfälle“ kriegt).

Letztendlich aber scheint mir Behinderung eher eine allgemein menschliche Frage zu sein, oder wenn man will: eine kulturelle, soziale oder anthropologische. Mit dem medizinischen Blick kommt man deswegen nicht weit, weil eine wichtige Frage ausgeklammert wird: in wie weit tragen unsere Vorstellungen & Erwartungen-vom-Leben dazu bei, dass wir ein bestimmtes Phänomen als „krank“ bezeichnen?

Zweite Frage: Wie kann es überhaupt sein, dass „etwas“ in dieser Welt als „verkehrt“ oder „daneben“ verstanden wird?

Medizinische Testverfahren machen es möglich, ab der zehnten Schwangerschaftswoche festzustellen, ob beim ungeborenen Kind das Down-Syndrom vorliegt. Laut statistischer Untersuchungen entscheiden sich in solchen Fälle weltweit achtzig Prozent der Eltern für eine Abtreibung. In den europäischen Ländern dürfte diese Zahl noch höher sein. Und das heißt, dass Menschen mit einem Down-Syndrom aus zu sterben drohen.

Dritte & vierte & fünfte & sechste & siebente & achte Frage: Warum geschieht das? Wie kann es sein, dass glückliche-ja-oft-auch-launische Menschen nicht leben dürfen? Und nicht nur: warum geschieht das, sondern auch: warum lassen wir das geschehen? Was sagen uns diese Tatsachen über uns und unsere Gesellschaft? Und: warum tun wir uns so schwer damit, wenn Menschen NICHT SO sind? Und: welche Bedeutung haben Behinderungen für das Entstehen einer Kultur des Herzens?

(Ich werde versuchen diese Fragen in den nächsten Monaten weiter aufzugreifen. Reife und unreife Reaktionen & Kommentare & Erfahrungsberichte wären sehr hilfreich.)

04.12.2008

Noch einmal über Christine Ballivet. Spuren hinterlassen

Heute erreichte mich der folgende Text von Sophie Pannitschka:

"Gestern Nachmittag haben Freunde, Kollegen, Familienangehörige und geistige Mitstreiter Christines irdische Hülle in Gex in der Familiengruft Ballivet beigesetzt. Viele waren zum Trauergottesdienst in die kleine französische Stadt in der Nähe von Genf gekommen und die kalte katholische Kirche war erfüllt von der Stille und Wärme der berührten, betroffenen und nachsinnenden Menschen. Nach der Aussegnung bewegte sich der lange Zug der an Christines Tod Anteilnehmenden durch das Städtchen bis zum Friedhof. Dort gab es einen letzten Abschied - dann wurde der Sarg in die Gruft eingelassen."

"Bei einem nachfolgenden Zusammensein erklangen viele Stimmen - von physisch oder geistig Anwesenden - die sich über Christine äußerten und von faszinierenden Begegnungen berichteten. Vertreter verschiedenster Kreise und Arbeitsfelder waren anwesend und machten die lebendige Vielfältigkeit von Christines Tätigkeitsfeldern sichtbar. Grüße, Texte, Gedichte und Berichte wurden in verschiedenen Sprachen verlesen. Erinnerungen wurden erzählt und das große soziale, geistige und spirituelle Netz um Christine wurde erlebbar."

"Christine hat Spuren hinterlassen und Menschen bewegt. An vielen Orten hat sie, ob ihrer Fähigkeit zu denken und sich gedanklich einzubringen, einen Eindruck hinterlassen. Dank Christine berühren und überschneiden sich Kreise - ihre irdischen Spuren werden geistig weiterführen."

"Am Ende der Zusammenkunft erhob Christines Bruder seine Stimme und offenbarte den Anwesenden, dass er seine Schwester wohl nur wenig gekannt habe, von vielem, was berichtet wurde, wusste er nichts. Tief beeindruckt, berührt und ergriffen gab er zu erkennen, dass die große Anteilnahme am Tod seiner Schwester nachhaltig Spuren in ihm hinterlasse."