Der Klavierspieler und der Beamte
Der Flügel war groß & schwarz. Er stand inmitten eines Zimmers mit weißen Wänden & weißen Bodenfliesen & weißen Gardinen. Ohne auch nur einmal mit seinen Augen zu blinzeln, schaute der Beamte mit einem skeptischen Blick auf das Instrument und fragte: „Woher kommt das Ding?“ Der Klavierspieler faltete seine enorm großen Hände, schüttelte kräftig seinen Kopf – die langen Haare flatterten um ihn herum – und sagte: „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen“.
„Ach so!“, sagte der Beamte. Er holte ein Notizbuch aus der Seitentasche seines Jacketts und kritzelte etwas hinein. „Das können Sie mir leider nicht sagen“, wiederholte er. Er schaute nochmals auf den Flügel, schwieg eine Weile und stellte dann fest: „Sie haben ein Problem!“ Er schaute kurz in sein Notizbuch, hob seinen Kopf und sagte: „Dann brauchen wir ein bisschen Zeit. Können Sie mir einen Stuhl bringen?“
Der Klavierspieler nickte, verschwand und kam unmittelbar mit einem Klappstuhl wieder zurück, den er gewandt ausklappte & hinstellte. „Machen Sie es sich gemütlich“, sagte er. Der Beamte tat so, als ob er nichts gehört hätte – hatte er vielleicht auch nicht – setzte sich hin & schwieg. Er schien all seine Erfahrungen & all sein amtliches Wissen zu sammeln, um herauszufinden, was in dieser schwierigen Lage der richtige Schritt wäre.
„Also“, sagte er, „erst müssen wir die genaue Bedeutung ihrer Aussage klären. Wissen Sie nicht woher das Klavier kommt? Oder gibt es einen anderen Grund, warum Sie mich nicht informieren können? Betrifft es vielleicht ein Geheimnis?“ Der Klavierspieler faltete wieder seine enorm großen Hände und sagte leise: „Ich weiß es nicht. Es ist aber eigentlich auch ein Geheimnis.“
Mit lauter Stimme, als wollte er betonen, dass Flüstern nicht passte, sagte der Beamte: „Es tut mir Leid, Geheimnisse können wir aber nicht dulden. Das wissen Sie wohl!“ Er öffnete sein Notizbuch, nahm den Stift in die Hand & wartete. „Bitte“, sagte er, „geben Sie mir jetzt ohne Umwege eine klare Erklärung.“
„Der Flügel war schon immer hier“, sagte der Klavierspieler.
„Immer, immer? Wieso immer? Nichts war schon immer da!“
„Doch, als ich hierher kam, war der Flügel schon da.“
„Jetzt müssen Sie aufpassen“, sagte der Beamte verärgert. „Alle Gegenstände haben eine Geschichte & meine Aufgabe ist es, die Geschichten der Gegenstände in dieser Stadt zu dokumentieren. Die Zeit ist vorbei, dass Gegenstände ohne Vermerke existieren können. Seien Sie also bitte so lieb und...“
„Der Flügel war schon immer da“, wiederholte der Klavierspieler. „Als ich hierher kam, war ich vier Jahre alt. Als ich fünf war, entdeckte ich das Zimmer – ich bin einfach hinein gegangen & habe das Klavier gefunden & seitdem mache ich Musik darauf. Und niemand konnte mir sagen, wem das Instrument gehört. Ja, ein Geheimnis ist es schon...“
„Warten Sie mal!“, sagte der Beamte. „Sie behaupten also, dass das Ding schon da war, als Sie als Kind hier einzogen? Und dass es damals niemanden gab, der Bescheid wusste? Ist es das, was Sie versuchen mir zu übermitteln?“
„Ja“, sagte der Klavierspieler leise.
„Und ihre Eltern?“
„Was ist mit meinen Eltern?“
„Nun, wussten sie auch nicht Bescheid?“
„Meine Eltern, meine Eltern...“ begann der Klavierspieler zögernd, „meine Eltern haben erst nach vielen Jahren mitbekommen, dass es das Zimmer mit dem Flügel überhaupt gab. Wieso hätten sie das auch wissen können? Beide sind übrigens bald danach gestorben.“
Der Beamte stand auf. Er lief auf das Fenster zu, schob die Gardinen zur Seite & schaute nach draußen. „Es regnet“, sagte er nachdenklich. Dann drehte er sich um, presste kurz und kräftig seine Lippen aufeinander und sagte: „Diese Geschichte gefällt mir gar nicht. Etwas stimmt hier nicht.“ Er nahm sein Notizbuch in die Hand und wollte etwas schreiben, hielt dann inne und sagte vor sich hin: „Was soll ich denn aufschreiben?“
„Nun ja, vielleicht die Wahrheit“, sagte der Klavierspieler.
„Reden Sie bitte nicht von der Wahrheit! Die Wahrheit in Bezug auf dieses Ding hier“ - sein Zeigefinger wies in die Richtung des Flügels - „muss noch aufgedeckt werden. Was Sie mir erzählen, kann nicht als vollständige & hinreichende & befriedigende Wahrheit gelten. Halbe Wahrheiten soll & darf & kann man nicht dokumentieren!“
„Sie scheinen das Ding hier nicht besonders zu mögen“, sagte der Klavierspieler.
„Bitte?“
„Den Flügel, meine ich...“
„Was soll denn das? Mir ist das Ding scheißegal. Was mir nicht gefällt, ist die Geschichte, die Sie erzählen. Ich meine...“
„Man kann Gegenstände nicht von ihren Geschichten trennen.“
„Gegenstände, Gegenstände...“ rief der Beamte. „Sie haben keine Ahnung von Gegenständen. Wissen Sie, heute geht es um ein Klavier, gestern war es eine alte Dampfmachine, vorgestern, ja, was war es vorgestern? Ach ja, ein holländisches Gemälde mit Windmühlen & Bauern & Schiffen & Wolken & Heringen... Was die Holländer sich nicht alles zusammen malen – nicht zu fassen! Sie haben aber recht: Gegenstände soll man nicht von ihren Geschichten trennen! Und deswegen...“
„Die Geschichte des Flügels ist leider ein Geheimnis“, sagte der Klavierspieler.
„Unfug“, sagte der Beamte, „wenn man will, kann man alles erklären.“ Er nahm sein Notizbuch & schrieb etwas hinein. „In sechs Wochen komme ich wieder“, sagte er dann. „Nutzen Sie die Zeit bis dahin bitte, um die Wahrheit aufzudecken.“