Die Bedeutung der Dinge. Über Autoreifen, Trambahnen und Feuerzeuge
Amares im Stadtwald von Köln ist ein Ort für Kinder. Drei Leitsätze machen das Leben mit den Kindern bei Amares aus: Räume schaffen, Zeit geben & dabei sein. Die Erzieherinnen & Pädagoginnen von Amares lassen sich durch pädagogische Denker, wie Loris Malaguzzi, Rudolf Steiner, Janusz Korczak & Henning Köhler inspirieren. Ihr Anliegen ist es vor allem, der unerschöpflichen Neugier & dem Tatendrang & den Gestaltungsfähigkeiten der Kinder eine Gelegenheit zu geben, sich zu entfalten.
Bei Amares gibt es eine Gruppe von etwa zehn Kindern unter drei Jahren. Ab August kommt eine zweite Gruppe dazu: etwa fünfzehn Kinder ab drei Jahren. Die Behörden der Stadt Köln scheinen Amares zu mögen. Obwohl die Wünsche von Amares sich manchmal ein bisschen quer zu den Regeln & Vorschriften & Gewohnheiten verhalten, benehmen die Beamten sich klüngel-technisch gesehen sehr entgegenkommend.
Amares hat seine Unterkunft in einem ehemaligen Betriebshof der Stadt Köln gefunden. Das kleine Gebäude & die offenen Garagen & die Mauer umrahmen den Hof – und mitten auf dem Gelände steht eine Linde, die gerade in den letzten Wochen üppig geblüht hat. Sie scheint mir die Wächterin von Amares zu sein, weil sie optisch gesehen Raum schafft, schweigend die Zeit vertritt & dazu noch voll dabei ist. Ohne die Linde läuft bei Amares gar nichts.
Rings um die Linde & in den Garagen liegt überall etwas... Kram, Sachen, Dinge, Zeug... Fast hätte ich geschrieben: Spielzeug. Eine der Mitarbeiterinnen hat vor ein paar Wochen eine Liste von vorhandenem Zeug gemacht & weil ich verwirrende Listen (das habe ich ja von Michel Foucault gelernt) über alles mag, zähle ich in diesem Weblog gnadenlos auf was dazugehört:
Puppen. Bücher. Autos. Parkhaus. Töpfe. Holzgarage. Wolltiere. Holztiere. Filzbälle. Puzzles. Matratzen. Schaufeln. Besen. Hacken. Gießkannen. Eimer. Teller. Siebe. Rohre. Bollerwagen. Roller. Fahrräder. Fahrzeuge. Kinderwagen. Kleider. Werkzeuge. Filmdosen. Wasserhahn. Schläuche. Papier. Scheren. Pinsel. Kreiden. Farben. Fingerfarben. Knöpfe. Becher. Ton. Steine. Stöcke. Tafeln. Autoreifen. Nähkisten. Wolle. Klopapierrollen. Murmeln. Murmelbahn.
(Liebe/r Leser/in, seid bitte so nett & merkt euch die Unmerkbarkeit dieser wunderbaren Liste! Diese Liste zu verstehen, heißt die Welt zu verstehen.)
Für heute interessiert mich gar nicht die Frage, was die Kinder mit den Eimern & Büchern & Holztieren & Stöcken & Schläuchen & Filmdosen machen. (Es heißt, wie bekannt, dass sie damit spielen.) Mir geht es heute um die umgekehrte Frage: was machen die Puppen & Röhren & Murmeln & Autoreifen mit den ganz kleine Kindern? Oder anders gesagt: welche Bedeutung haben die Gegenstände für die Kinder?
Für kleine Kinder gibt es keine Gegenstände. Sie existieren einfach nicht. So etwas Komisches wie: hier bin ich & dort ist die Puppe, gibt es in der Welt der kleinen Kinder nicht. Den Akt der Gegenstands-Schöpfung haben die Kinder noch nicht vollzogen – sie schwimmen & schweben & tanzen in die Dingen, wie ich in der wunderbaren Liste schwimme. Es ist übrigens ein Fehler zu denken, dass die kleinen Kinder die Dinge „noch nicht“ kennen. Auch so etwas Komisches wie „noch nicht“ kennen die Kinder „noch“ nicht.
Der große schwarze Autoreifen macht das Kind schwarz & rund & kautschukisch. Der große schwarze Autoreifen kann ja alles sein: ein Bett, ein Haus, ein Nest, ein Topf, eine Tür... Der große schwarze Autoreifen kann sich mit allem möglichen zusammen tun: mit Tüchern, Papieren, Stöcken, Steinen, Wasser, einer Röhre... Und was dann entsteht, ist ja gar kein Ding mehr, sondern ein Geschehen, ein Ereignis, ein Event. Der große schwarze Autoreifen ist nicht einmal „multi-funktionell“ (klingt ja fast „pädagogisch“), weil die Liste der möglichen Funktionen unbegrenzt ist.
Ein altes Wort für Versammlung ist „Ding“. Ein Ding war vor tausend Jahren noch ein Event, ein Zusammenkommen in einem Zentrum von Menschen aus einer weiten Peripherie. (Das Parlament in Norwegen heißt noch immer „Ting“.) Und die Kinder erleben es jeden Tag: nicht die kulturelle Bestimmung der Funktionen (mit einem Löffel soll man essen) macht die Dinge aus, sondern ihre Umgebung, ihre Aura, ihr sich zusammenziehender Umkreis. Für die kleinen Kinder sind die Gegenstände ständig im Kommen.
Und sie berühren uns im Kommen. Aber was machen diesbezüglich die Dinge mit uns? In einem Text über Puppen schreibt Rainer Maria Rilke über eine kleine Trambahn: „[...] Du, überzeugte Seele der Trambahn, die in uns fast überhandnehmen konnte, wenn wir nur mit einigem Glauben an unsere Wagen-Natur in der Stube herumfuhren.“ Räume schaffen heißt also auch: Innenräume öffnen & bewegen & gestalten.
Wenn wir „glauben“ gibt es diesbezüglich gar keinen Unterschied zwischen Kindern & Erwachsenen. Wenn die kleine Helena mich fragt, ob sie ein Feuerzeug entzünden darf (sie kann es leider nicht so gut & braucht dringend Hilfe dafür, was sie gerne zulässt) schaut sie auf die Flamme und spürt wie die Flamme sich in ihrem „Innenraum“ entzündet. Helena ist dann Flamme. Das billige BIC- Feuerzeug erzeugt ein Flammen-Erzeugen-in-ihr.
Wir Erwachsenen sind nicht mehr so dabei. Wir Erwachsenen meinen, dass der schwarze Autoreifen eigentlich ausgedient hat & jetzt nur noch ein Spielzeug ist. Für den Autoreifen fängt das richtige Leben aber erst nach seinem funktionellen Tod an. Er liegt auf dem Hof & macht lachend mit.
Mit Dank an Sophie Pannitschka