14.12.2009

In Singapur wird die Welt rund. Über eine Weltstadt

Großstädte haben mich schon immer beeindruckt. Schon als Kind glaubte ich, dass Städte wie Utrecht, Rotterdam & Amsterdam die „richtigen“ Orte seien. Dort sei das wirkliche Leben zu finden. Wichtig war mir die Vorstellung, dass Städte rund um einen Kern gebaut sind. Eine Stadt zu kennen, hieß, sich in ihrem Herzen auszukennen.

Letzten Monat war ich zehn Tage in Singapur. Die Stadt war allerdings nicht das Ziel meiner Reise – ich war dort hin geflogen, weil einer meiner Söhne mit seiner Familie in dieser großen Hafenstadt an der Südspitze von Malaysia lebt. Die Stadt hat mich aber trotzdem richtig gepackt, weil sie eine sehr kräftige Aussage macht.

Singapur ist nicht entstanden, sondern konstruiert worden. Dass der Stadtstaat überhaupt existiert, liegt daran, dass die Engländer ihn bewusst wollten. Die Gründung von Singapur war ein strategischer Willensakt, in London ausgedacht & vor Ort in Südostasien gezielt durchgeführt. Singapur basiert auf der Vorstellung einer Globalisierung, die von England aus gesteuert wurde.

Um eine Idee davon zu bekommen, wie Singapur vor Singapur aussah, muss man auf eine der kleinen benachbarten Inseln gehen, wie zum Beispiel Pulau Ubin. Man stellt dann sofort fest, dass Singapur aus dem Dschungel erobert worden ist. Würde man in Singapur drei Jahre den ständigen Kampf gegen die Natur vernachlässigen, wäre die Stadt bald wieder Regenwald. Dieser Willensakt findet also jeden Tag statt.

Die Stadt ist modern & bis in die kleinsten Einzelheiten geregelt & sehr sauber & sehr schön. Die Notwendigkeit des täglichen Willensakts hat dazu geführt, dass man Singapur keine Demokratie nennen kann. Vom Liberalismus hat Singapur nur die wirtschaftliche Seite übernommen, den Kapitalismus – politisch gesehen ist Singapur eine Art freundliche Diktatur. (Man könnte schon die Frage stellen, ob eine offene Demokratie im Stande wäre, das benötigte gemeinsame Wollen zu erzeugen.)

Die Herzkammer von Singapur sind die Einkaufzentren – die so genannten „Malls“ – bei Orchard Road. Auch für europäische Begriffe sind diese Zentren ausgesprochen expressiv, ich meine: sie sprechen sehr laut die Sprache des Konsums. Die Einwohner der Stadt sind ausgesprochen wohlhabend. In den Zentren findet man vor allem „europäische“ Läden, dort werden in ausgeräumten Räumen die Marken aus Paris & London & Berlin präsentiert.

Ganz anders wirken die Viertel, in denen die Leute aus Indien, China, Malaysia & Arabien leben und arbeiten. In Little India zum Beispiel findet man Hunderte von kleinen Läden, die dicht nebeneinander stehen & eine unübersichtliche Unmenge an exotischen Waren anbieten. Und in der Arab Street reihen sich die kleinen Kaffeehäuser aneinander, an deren Tischen die Muslime unergründliche kommerzielle Verhandlungen führen.

Nach ein paar Tagen stellte ich fest, dass sich Singapur an der Spitze der Globalisierung befindet. In Deutschland reden wir über die Globalisierung wie über ein bedrohenliches Phänomen, in Singapur kriegt man das Gefühl, irgendwie mittendrin zu sein. Die Globalisierung scheint dort locker & selbstverständlich & hautnah zu funktionieren. Oder vielleicht besser gesagt: man fühlt sich in der Globalisierung gut aufgehoben.

Wenn es wahr ist, dass Singapur ein Bild für ganz Südostasien darstellt, darf ohne Weiteres gesagt werden, dass die Region eine riesige Potenz hat. Das Lebensgefühl dort hat gar nichts vom Schwierigen & Schweren & Melancholischen, dass die Stimmung in Europa zu beherrschen scheint. Sehr auffallend ist ausserdem, dass die Religionen – Buddhismus, Hinduismus & Muslim – ganz lebendig bis auf jeder Ecke zu erleben sind. Einen Konflikt zwischen Modernität & Religion scheint es gar nicht zu geben.

Was mich aber am meisten getroffen hat, ist die Tatsache, dass die Vorstellung der Welt bei den Einwohnern von Singapur „rund“ ist. Ich meine das Folgende. Wenn ich an die Welt denke, stelle ich mir eine Spannung zwischen dem Osten & dem Westen vor. Die Welt sieht genau so aus, wie mein Flieger geflogen ist: über Polen, den Kaukasus, Afghanistan, Indien, Malaysia... Und ich denke diese Linie weiter bis China & Japan.

Dahinter liegt nichts, na ja, ein immenser Ozean... In Singapur aber stellt man sich die Welt ganz anders vor. Einerseits gibt es die westliche Verbindung zu Europa & Amerika, andererseits aber gibt es den östlichen Weg nach Amerika, OHNE Europa. Das heißt nicht nur, dass die Welt als „rund“ erlebt wird, sondern auch, dass es eine Verbindung gibt, die mit Europa gar nichts zu tun hat.

Was für uns in Europa oft ein schwieriger Gedanke ist, scheint für den Südostasiaten eine Selbstverständlichkeit zu sein: das „Entwicklungsfeld“ in der Welt liegt zwischen China & Amerika, ohne dass Europa dazwischen wie eine „Mitte“ fungiert. Europa wird nicht mehr so richtig gebraucht. Und so verhalten die Asiaten sich auch zu Europa: wenn ihr mitmacht, gerne, aber ohne euch wird es auch gehen!

6 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Die Erde ist bekanntlich eine Einheit. Es genügt also nicht nur den amerikanischen Westen und den äußersten Osten zu denken. Europa läßt sich weder kulturell noch globalistisch so mir nichts, dir nichts, ausschalten.

Betrachten wir die Erde doch einfach einmal wie ein Raumschiff, so werden wir sehen, ohne seine Mitte kommt es nicht aus.


Raumschiff Erde

Der blaue Planet
steuert seinen
Kurs und
trotzt dem
Newtonschen
Gesetz.

(Michael Heinen-Anders)

Ruthild hat gesagt…

Dem Kapitalismus kann überall ein abruptes Ende gesetzt werden, im fernen Osten und auch in Europa. Das haben die Flutwellen der Menscheit deutlich gezeigt.
Herzliche Grüße aus der Mühle
Ruthild

Anonym hat gesagt…

Money makes the world go round... S. Zl

Anonym hat gesagt…

Lieber Michael Heinen-Anders,
die Frage ist nur: wo liegt denn die Mitte? Hat unser Planet eine Mitte? Nitta

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Geometrisch liegt die Mitte unseres Planeten im Erdkern (vgl. dazu auch
Judith von Halle, Der Abstieg in die Erdenschichten), geographisch und ptolemäisch betrachtet liegt die Mitte unseres Planeten in Europa (vgl. auch Harrie Salman, Die Heilung Europas: Das Erwachen des Europäischen Selbstbewusstseins).

Anonym hat gesagt…

man kann nicht lächelnd in die zukunft blicken,
wenn die vergangenheit voller vergessener erinnerungen bleibt