26.12.2009

Über Licht und Dunkel. Ein hinduistischer Mönch in Singapur

Die Erzählung von Licht & Dunkel gehört zweifellos zu den maßgebenden „Bedeutungsfeldern“ der Menschheit. Mit dem Zunehmen oder Abnehmen des Lichtes – und damit verbunden dem Zunehmen oder Abnehmen des Dunkels – sind entscheidende Begriffe verbunden, wie Leben & Tod, Gut & Böse, Wahrheit & Lüge, ja eben Schönheit & Hässlichkeit. Die Erzählung von Licht & Dunkel ist eine richtige Erzählung.

Was ist eine richtige Erzählung? Richtige Erzählungen erzählen nicht von Ereignissen, sondern sind Ereignisse. Sie machen die Ereignisse, von denen sie nicht erzählen, zum Ereignis. Richtige Erzählungen werden im Grunde genommen nur einmal erzählt, immer wieder nur einmal erzählt. Das Wiederholen von richtigen Erzählungen beruht auf der Tatsache, dass sie immer wieder neu erzählt werden können, als hätten sie keine Geschichte.

Das, was die Geschichte ausmacht, wird in richtigen Erzählungen bis zum Nullpunkt zurück gebracht. Erzählungen vibrieren im Jetzt. Richtige Erzählungen heben die zeitlichen Kategorien von Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft auf. Sie stoßen diese drei in einen aufsteigenden Wirbel, den man selbstverständlich Gegenwart nennen darf – eine Gegenwart allerdings, die Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft umfasst.

Die Gegenwart gibt es zweimal. Einmal als eine untergeordnete zeitliche Einheit in einem gedanklichen Rahmen, die mit den Begriffen Vergangenheit & Gegenwart & Zukunft angedeutet wird. Und einmal als eine übergeordnete Einheit, die alle drei Begriffe umfasst & im Grunde genommen mit der Zeit gerade nichts mehr zu tun hat. Nur in dieser übergeordneten Einheit finden die Vorgänge statt, die wir Ereignisse nennen.

Eine richtige Erzählung ist also die Erzählung vom Zunehmen des Lichtes. In unserer Gegend kennen wir diesen Vorgang in zwei Gestalten: einmal pro Tag & einmal im Jahr. Jeden Morgen wieder nimmt das Dunkel ab & das Licht nimmt zu. Und im Dezember, in der Weihnachtszeit & kurz danach, passiert das gleiche, allerdings so, dass das Dunkel für ein ganzes halbes Jahr ins ständige Abnehmen versetzt wird. Das Licht dagegen bleibt bis Juni im Kommen.

Es gibt Gegenden, in denen man diesen zweiten Vorgang nicht kennt. In Singapur zum Beispiel, nicht mehr als fünfzig Kilometer vom Äquator entfernt, findet die Abwechslung von Licht & Dunkelheit über das ganze Jahr morgens & abends genau um etwa sieben Uhr statt. Es gibt dort jeden Tag genau zwölf Stunden Dunkelheit & zwölf Stunden Licht. (Und ganz eigenartig: der Übergang ereignet sich immer innerhalb von fünfzehn Minuten. Stundenlange Dämmerungen sind dort ein unbekanntes Phänomen.)

Zu einer richtigen Erzählung vom Zunehmen des Lichtes gehört also die Gegebenheit, dass sie auf unserem Planet unterschiedlich wahrgenommen & erlebt wird. Oder vielleicht besser gesagt: das Wachsen des Lichtes kennt mehrere Gesichter. Und weil die Erde rund ist – mittlerweile dürften alle Erdbewohner das wissen – bedeutet dies, dass die Zahl der Gesichter festlegt werden kann. Es gibt nicht weniger als 360 richtige Erzählungen von Licht & Dunkel.

Dieses globale Wissen erzeugt in der Erzählung vom Zunehmen des Lichtes einen Sprung. Wenn wir daran festhalten, dass zu der Erzählung vom Zunehmen des Lichtes die Vorstellung von der Geburt eines Kindes gehört – geben wir ihm einen Namen: Jesus – und dazu noch immer meinen, dass diese Geburt für alle Menschen auf der Erde eine wesentliche Bedeutung hat, müssen wir einen Sprung in einen Wirbel machen.

Ich war vor ein paar Wochen in Singapur in einem hinduistischen Tempel, der Göttin Kali geweiht, Herrscherin der Dunkelheit. Genau um zwölf Uhr mittags erschien ein alter Mönch, der kaum noch gehen konnte – er wackelte durch den Raum, seine Augen noch oben gedreht. Erst meinte ich spontan, dass er betrunken wäre. Weil aber eine lange Reihe von Menschen gespannt auf ihn wartete, kam ich auf den Gedanken, dass er als ein Heiliger angesehen wurde.

Ich schloss mich der Reihe der Wartenden an. Als der Mann bei mir angekommen war, schaute er über mich hinweg – ich glaube nicht, dass er mich richtig gesehen hat – so, als ob ich eigentlich irgendwo anders wäre, ganz weit oben im Himmel. Wie bei den Anderen rieb er mit seinem Finger eine weiß-gelbe Farbe auf meine Stirn.

Ich hatte & habe keine Ahnung davon, in welchem Ritual ich mich eigentlich befand. Entscheidend für mich war aber die Erfahrung, dass der Blick des Mönchs mich an einer Stelle zu suchen schien, an der ich mich normalerweise bei Tagesbewusstsein gar nicht erlebe, nämlich ganz oben im Licht. Ich hatte die Neigung, mich umzudrehen & nach oben zu schauen, um mich zu finden.

Als ich kurz darauf wieder auf der bunten Straße war, merkte ich, wie die Ausweitung nach oben dazu führte, dass ich mich unten ganz klein & unbeholfen empfand. Das Leben hier unten schien keine Bedeutung mehr zu haben. Es war, als ob es eine Kluft zwischen oben & unten, Licht & Dunkel gab – ohne Brücke, ohne Beziehung, ohne Dialog. Und ich stellte fest, wie sehr mein Selbstverständnis mit Dämmerung zu tun hat. Ich verstehe mich als einen Menschen, der sich in der Dämmerung immer wieder findet.

Die Erzählung des hinduistischen Mönchs ist aber genau so richtig, weil die Erde eben rund ist. Sie scheint zu bedeuten, dass etwas von mir sich in der Tat weit weg von mir ganz oben im Licht befindet. Diese Erkenntnis dämmert mir nicht ein, sondern erreicht mich eher wie ein Schock & macht das Leben für eine Weile zum Witz. Ich sage mir, was die Göttin Kali sagt: das Leben auf der Erde ist Maya.

20.12.2009

Die Kerze ist eine uralte Erfindung. Über das Immer-wieder-neu-geboren-Werden

Es ist ein Winternachmittag & es ist draußen dunkel. Ich sitze an meinem kleinen Küchentisch, entzünde eine Kerze & schaue darauf, was geschieht. Zunächst „geschehen“ meine Gedanken – sie kommen & gehen, ohne dazu eingeladen zu sein. Besonders erleuchtend sind sie aber nicht. Sie wiederholen zwanghaft das, was ich den ganzen Tag schon gedacht habe, nämlich, dass ich die Arbeit A noch zu erledigen habe, die Kollegin B unbedingt anrufen & endlich mal meinen Kühlschrank sauber machen sollte.

Ich verabschiede mich von meinen Gedanken. Sie scheinen heute Nachmittag nicht sehr aufdringlich zu sein, vielleicht sind sie müde & sehnen sich nach Ruhe. Ich denke noch: wo gehen die Gedanken eigentlich hin, wenn ich mich von ihnen verabschiede? Weil diese Frage eine Menge weitere Gedanken erzeugt, lasse ich auch sie los.

Und dann bin ich leer. Nun ja, leer ist vielleicht nicht das richtige Wort. Was übrig bleibt, wenn sich meine Gedanken zurück gezogen haben, ist eine leise Stimmung, ein farbiges Lispeln, ein stilles Vibrieren, das sich schwer beschreiben lässt. An dieser Stelle taucht wieder eine Frage auf, von der ich mich ebenfalls verabschieden will, die ich aber in diesem Text trotzdem in Worte fassen muss.

Die Frage lautet: was da nach meinen Gedanken erscheint, ist das mein Körper? Sind die Stimmungen & das Lispeln & das Vibrieren als Erscheinungen zu verstehen, die von meinem Körper ausgehen, abstrahlen und dann im Blickfeld meiner Aufmerksamkeit auftauchen? Oder müsste ich diesbezüglich eher sagen, dass ich es hier mit seelischen Erscheinungen zu tun habe, die nicht körperlicher Natur sind?

Über diese Frage habe ich schon öfters nachgedacht. Ich bin zu der Annahme gekommen, dass hier eine Mischung vorliegt, ein ineinander Spielen von organischen & rein seelischen Vorgängen, die aber aufeinander bezogen sind & gerade dadurch die Empfindung eines Innenraums erzeugen. Die Stimmung & das Lispeln & das Vibrieren vollzieht sich „in“ Etwas – und dieses Etwas ist noch am besten mit dem Begriff von Rainer Maria Rilke zu beschreiben: Innenraum.

Ich lasse diese Annahme also im Raum stehen – und ja: sie drängt sich nicht weiter auf, ich vermute, weil ich höflich bin – und schaue darauf, was weiter geschieht. Ich befinde mich also in einer Lage, die sich so beschreiben lässt: ich bin einerseits ein Beobachter & andererseits ein leerer Raum, der zwar eine Stimmung beinhaltet, trotzdem aber für das, was kommen will frei ist. Ich bin gleichzeitig ein Schauender & eine Schale.

Die Kerze brennt ruhig. Sie beleuchtet sanft die Wände meiner Küche, berührt die weißen Lilien am Fenster, hebt das braune Holz des Tisches hervor. Sie bringt Ruhe. Nach einer Weile aber merke ich, dass die kleine Flamme sich in mir fortsetzt, mich leise vereinnahmt & sich in meinem Innenraum versetzt und dort ausbreitet. Eigentlich kann ich nicht mehr sagen, dass sich die Kerze außerhalb von mir befindet – sie ist eine Erscheinung in mir geworden. Und sie beleuchtet innere Erscheinungen.

Was ist Feuer? Feuer ist eine physikalische Erscheinung geistiger Natur. Im Feuer zeigt sich der Geist auf eine fast unmittelbare Weise. Ich versuche nicht, mit meinem Finger die Flamme zu berühren – Kinder machen das gerne – weil mir klar ist, dass mein Körper den Geist nicht ertragen kann. Brennen bedeutet eine unmittelbare Berührung von Geist & Materie, ohne einen seelischen Puffer. Im Feuer verwandeln sich die Substanzen.

Die Kerze ist eine uralte & geheimnisvolle Erfindung. Das Wunderbare an einer Kerzenflamme ist, dass sie – solange sie nicht physisch berührt wird – genau dem Maß meiner Seele entspricht. Was mit einem Waldbrand oder eben einem Lagerfeuer normal gesprochen nicht geht, ist mit einer Kerze immer möglich, nämlich, dass ich mich seelisch gesprochen auf gleiche Augenhöhe mit dem Geist begeben kann. Ich kann das Licht & die Wärme einer Kerze verinnerlichen, ohne in eine Bedrängnis zu geraten.

In meinem Innenraum brennt also die Kerze. Ich schaue darauf was kommt & nach einer Weile stelle ich fest, dass sich ein lautloser & leiser Gesang in mir bemerkbar macht. Es ist, als ob es in mir, unsichtbar, wie verborgen in einem Keller, einen Chor gibt, der leichte & ernsthafte & heitere Töne und Klänge von sich gibt. Und wenn ich mich, was nur ein paar Minuten gelingt, frei & bedingungslos an den stillen Gesang übergebe, fühle ich mich getragen. Ich bin auf einmal nicht mehr ein Beobachter, sondern komme im Zustand des Schwebens zu mir selber.

In mir verschmelze ich mit mir. Und „in mir“ bedeutet auf einmal nicht nur „in mir“, sondern auch: „in der Welt“. Innenwelt & Außenwelt schieben sich ineinander. Und ich sage mir: dein Dasein beruht nicht auf gespürten Innerlichkeiten & gespürten Äußerlichkeiten - sie spiegeln dich nur - sondern auf einem direkten Gespür von dir in dir. Und ich weiß, dass ich unabhängig von meinem Körper & meiner Seele existiere. Ich fühle mich wie neu geboren.

14.12.2009

In Singapur wird die Welt rund. Über eine Weltstadt

Großstädte haben mich schon immer beeindruckt. Schon als Kind glaubte ich, dass Städte wie Utrecht, Rotterdam & Amsterdam die „richtigen“ Orte seien. Dort sei das wirkliche Leben zu finden. Wichtig war mir die Vorstellung, dass Städte rund um einen Kern gebaut sind. Eine Stadt zu kennen, hieß, sich in ihrem Herzen auszukennen.

Letzten Monat war ich zehn Tage in Singapur. Die Stadt war allerdings nicht das Ziel meiner Reise – ich war dort hin geflogen, weil einer meiner Söhne mit seiner Familie in dieser großen Hafenstadt an der Südspitze von Malaysia lebt. Die Stadt hat mich aber trotzdem richtig gepackt, weil sie eine sehr kräftige Aussage macht.

Singapur ist nicht entstanden, sondern konstruiert worden. Dass der Stadtstaat überhaupt existiert, liegt daran, dass die Engländer ihn bewusst wollten. Die Gründung von Singapur war ein strategischer Willensakt, in London ausgedacht & vor Ort in Südostasien gezielt durchgeführt. Singapur basiert auf der Vorstellung einer Globalisierung, die von England aus gesteuert wurde.

Um eine Idee davon zu bekommen, wie Singapur vor Singapur aussah, muss man auf eine der kleinen benachbarten Inseln gehen, wie zum Beispiel Pulau Ubin. Man stellt dann sofort fest, dass Singapur aus dem Dschungel erobert worden ist. Würde man in Singapur drei Jahre den ständigen Kampf gegen die Natur vernachlässigen, wäre die Stadt bald wieder Regenwald. Dieser Willensakt findet also jeden Tag statt.

Die Stadt ist modern & bis in die kleinsten Einzelheiten geregelt & sehr sauber & sehr schön. Die Notwendigkeit des täglichen Willensakts hat dazu geführt, dass man Singapur keine Demokratie nennen kann. Vom Liberalismus hat Singapur nur die wirtschaftliche Seite übernommen, den Kapitalismus – politisch gesehen ist Singapur eine Art freundliche Diktatur. (Man könnte schon die Frage stellen, ob eine offene Demokratie im Stande wäre, das benötigte gemeinsame Wollen zu erzeugen.)

Die Herzkammer von Singapur sind die Einkaufzentren – die so genannten „Malls“ – bei Orchard Road. Auch für europäische Begriffe sind diese Zentren ausgesprochen expressiv, ich meine: sie sprechen sehr laut die Sprache des Konsums. Die Einwohner der Stadt sind ausgesprochen wohlhabend. In den Zentren findet man vor allem „europäische“ Läden, dort werden in ausgeräumten Räumen die Marken aus Paris & London & Berlin präsentiert.

Ganz anders wirken die Viertel, in denen die Leute aus Indien, China, Malaysia & Arabien leben und arbeiten. In Little India zum Beispiel findet man Hunderte von kleinen Läden, die dicht nebeneinander stehen & eine unübersichtliche Unmenge an exotischen Waren anbieten. Und in der Arab Street reihen sich die kleinen Kaffeehäuser aneinander, an deren Tischen die Muslime unergründliche kommerzielle Verhandlungen führen.

Nach ein paar Tagen stellte ich fest, dass sich Singapur an der Spitze der Globalisierung befindet. In Deutschland reden wir über die Globalisierung wie über ein bedrohenliches Phänomen, in Singapur kriegt man das Gefühl, irgendwie mittendrin zu sein. Die Globalisierung scheint dort locker & selbstverständlich & hautnah zu funktionieren. Oder vielleicht besser gesagt: man fühlt sich in der Globalisierung gut aufgehoben.

Wenn es wahr ist, dass Singapur ein Bild für ganz Südostasien darstellt, darf ohne Weiteres gesagt werden, dass die Region eine riesige Potenz hat. Das Lebensgefühl dort hat gar nichts vom Schwierigen & Schweren & Melancholischen, dass die Stimmung in Europa zu beherrschen scheint. Sehr auffallend ist ausserdem, dass die Religionen – Buddhismus, Hinduismus & Muslim – ganz lebendig bis auf jeder Ecke zu erleben sind. Einen Konflikt zwischen Modernität & Religion scheint es gar nicht zu geben.

Was mich aber am meisten getroffen hat, ist die Tatsache, dass die Vorstellung der Welt bei den Einwohnern von Singapur „rund“ ist. Ich meine das Folgende. Wenn ich an die Welt denke, stelle ich mir eine Spannung zwischen dem Osten & dem Westen vor. Die Welt sieht genau so aus, wie mein Flieger geflogen ist: über Polen, den Kaukasus, Afghanistan, Indien, Malaysia... Und ich denke diese Linie weiter bis China & Japan.

Dahinter liegt nichts, na ja, ein immenser Ozean... In Singapur aber stellt man sich die Welt ganz anders vor. Einerseits gibt es die westliche Verbindung zu Europa & Amerika, andererseits aber gibt es den östlichen Weg nach Amerika, OHNE Europa. Das heißt nicht nur, dass die Welt als „rund“ erlebt wird, sondern auch, dass es eine Verbindung gibt, die mit Europa gar nichts zu tun hat.

Was für uns in Europa oft ein schwieriger Gedanke ist, scheint für den Südostasiaten eine Selbstverständlichkeit zu sein: das „Entwicklungsfeld“ in der Welt liegt zwischen China & Amerika, ohne dass Europa dazwischen wie eine „Mitte“ fungiert. Europa wird nicht mehr so richtig gebraucht. Und so verhalten die Asiaten sich auch zu Europa: wenn ihr mitmacht, gerne, aber ohne euch wird es auch gehen!

08.12.2009

Brief Poliziano in het Nederlands

De Nederlandse versie van de brief van Angelo Poliziano is te vinden op de weblog van Michel Gastkemper. Datum: 7 december 2009. Adres:

http://antroposofieindepers.blogspot.com/

04.12.2009

Brief von Angelo Poliziano an Piero de Medici im Jahr 1493

An Piero, den Unglücklichen

Kleiner, ich legte meine Hand auf deine Haut und sah aus dem Braun deiner Augen den weißesten Blick nach oben schießen, weit an mir vorüber. Ich ahnte nicht, dass sich in einem Körper soviel verletztes Bewusstsein versteckt haben konnte, und soviel Sehnsucht. Kleiner, was ist ein Kind?

Heute ging ich wieder die schmalen Pfade meiner Jugend entlang, zwischen Montepulcianos Baumgärten, auf dem Weg nach Hause. Jeder Schritt verdunkelte meine Seele, denn im dunklen Haus meines Vaters, wie ich jetzt weiß, dass ich damals empfand, lebte schon der Schatten seines Mörders.

Der Tod war schon lange bevor mein Vater starb da. Er lebte in meines Vaters Angst vor der Einsamkeit, in der Angst auch vor der Liebe, die in ihm war. Ich wusste, wie es auch dieses Mal gehen würde: ich würde die große Türe langsam aufziehen und die Kühle des Marmors in der Halle spüren, und meine Mutter würde rufen, dass mein Vater auf mich wartete, schon ganz lange wartete, und jetzt weiß ich, dass ich die Frage spürte: auf wen wartete er eigentlich? Auf mich, Angelo? Auf sein Kind? Oder auf etwas, das es nicht wirklich gab und nur in seinen Erwartungen lebte?

Ja, Kleiner, was ist ein Kind? Ich glaube, du warst das erste Kind, das ich sah, als ich meine Hand auf deine Haut legte und diesen Blick hoch schießen sah, fast wie ein Fisch aus einem Dunkel, in dem ich kein Leben vermutete. Ich berührte dich, sonst nichts. Aber es ist wahr: ich berührte dich wirklich. Ich spürte deine Haut an der meinen, eine sich sehnende Haut, eine fiebernde Haut, eine unglückliche Haut…

Aber was ist Haut? Haut ist die Außenseite einer Innenseite, eine empfindliche Schale um eine noch empfindlichere Frucht. Haut ist Innenseite, die zur Außenseite geworden ist, ohne die Beziehung zur Innenseite verloren zu haben. Die Haut weiß noch, was sie einmal war: empfindsame Zusammenziehung. Du, Kleiner, mit deiner schaudernden Haut im Regen, mit deinen Augen, die immer wieder wanderten, um zu sehen, ob zufällig dein Vater, der Gelobte, in den Garten hinein käme um schließlich das Pferdchen zu bringen.

Wusste dein Vater aber, was ein Kind ist? Nein, er wusste es nicht. Und gerade dadurch, dass ich es jetzt verstehe, denn ich liebte deinen Vater wie sonst keinen, sehne ich mich nach dir mit einem Herzen, das im Zerbrechen ist. Ich sehne mich nach deiner Haut, nach deinem Blick, nach deinen Augen, und ich möchte, dass ich mit meiner Hand aufs Neue das Kind wachrufen könnte, das in dir versteckt lag.

Daran musste ich heute denken, als ich die schmalen Pfade meiner Jugend entlang lief, auf dem Wege zu dem Haus, das es nicht mehr gibt. Kleiner Unglücklicher, ich denke an dich und verstehe die Welt nicht mehr.
Dein Angelo