24.07.2010

Dankbar Fragmentarisches. Über eine Reformschule in Utrecht

Weil ich damals als Schüler als hoffnungsloser Fall eingestuft wurde, untersuchte mich ein Psychologe. Er öffnete mit zwei wunderbaren Vorschlägen auf einmal in meinem Leben einen unerwarteten Raum. Erstens meinte er, dass ich in eine Reformschule geschickt werden solle, weil eine „normale“ Schule mir offensichtlich zu langweilig sei. Zweitens meinte er, dass ich mich mit dem Gedanken anfreunden solle, Journalist zu werden. Journalisten, so meinte er, seien ja immer unterwegs, irgendwie ungebunden und irgendwie doch nützlich. „Das Einzige was ihr Sohn kann“, so sagte er meinem Vater, „ist schreiben. Alles andere liegt außerhalb seiner Möglichkeiten“.

Irgendwie ungebunden und irgendwie doch nützlich... Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass diese Worte mich bis zum heutigen Tag begleiten... Das Gefühl, in nichts Normales hinein zu passen und doch auf eine unbestimmte Art und Weise mitmachen zu können, ist einer der Grundempfindungen meines Lebens. Und gerade diese Grundstimmung herrschte in der „Openbare IVO-School“, einer Reformschule in Utrecht, die von dem ehemaligen Journalisten Tjeerd de Boorder geleitet wurde. In dieser Schule hatten sich etwa zweihundert Lehrer und Schüler zusammengefunden, die irgendwie komplett daneben und doch irgendwie komplett mittendrin waren. Die Schule war eine Werkstatt des Ungewöhnlichen.

Tjeerd de Boorder war ein Phänomen. Es konnte geschehen, nein: Es geschah tatsächlich immer wieder, dass er auf einmal alle Schüler und Lehrer in die Turnhalle rief, um unter Tränen ein Gedicht von Goethe oder Schiller vorzutragen, immer ein deutsches Gedicht... Er stand da ganz vorne, brauchte gar nicht um Stille zu bitten und fing gerührt und getragen an mit: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind“, und als er beim letzten Satz angekommen war: „Das Kind war tot“, hatte sich eine sentimentale Betroffenheit unter allen Zuhörern breit gemacht. Tjeerd de Boorder schaffte es, mit einem Gedicht ein Ereignis zu erzeugen.

Einmal, seine Frau hatte Geburtstag, schickte er zwei ältere Schüler mit seinem schwarzen Mercedes in die Stadt, um zweihundert kleine Torten - gefüllt mit Schlagsahne - zu kaufen, die er dann in der Turnhalle persönlich verteilte. Nach dem Genuss der Torte hielt er eine kleine Rede über seine Frau, die auch Lehrerin an der Schule war, allerdings eine nicht so ganz beliebte. Ich kann mich an seine genauen Worte leider nicht mehr erinnern, weiß aber noch, dass ich für eine Weile seine Frau wieder ein bisschen mochte. Es war Tjeerd de Boorder richtig ein Anliegen: wir hatten einander zu mögen und zu respektieren.

An dieser Schule bekamen nicht nur Gedichte einen besonderen Platz, sondern auch Musik, Malen, Geschichte, Politik und Demokratie. Die Lehrer waren fast alle heftig links, pazifistisch, anarchistisch... Sie waren keine pädagogischen „Funktionäre“, sondern engagierte Persönlichkeiten, die so richtig etwas mit den Schülern und überhaupt der ganzen Welt vorhatten. Neben Tjeerd de Boorder ist noch der Maler, Dichter und Buchautor Hugo Wormgoor zu erwähnen, ein kleiner Mann mit einem langen Bart, der (damals noch) rauchte wie ein Schornstein und sich während seines Unterrichts mit allem Möglichen und Unmöglichen beschäftigte: Mathematik, Mythologie, Spiritualität, Sprache, Sterne und Planeten. Egal was geschah, malen oder nicht malen, Hugo Wormgoor erzählte uns quasi nebenbei von Sachen, wovon wir nicht einmal wussten, dass es sie überhaupt gab.

Innerhalb von wenigen Wochen hatte ich auf einmal mehr als zwanzig „Freunde“ um mich herum. Ich war in einem Flechtwerk von auffälligen Zeitgenossen angekommen, die alle von sich aus ihr eigenes Ding machten: ehrgeizig Hockey spielen, Gedichte und Lieder schreiben, E-Gitarren bauen und spielen, Schlagzeug spielen, Skulpturen aus Kupfer gießen, große Wandbilder malen (zum Beispiel in den Jazz-Kellern in der Innenstadt) oder gerade kleine Miniaturen, Verstärker und sonstige soundmachines bauen, mit 16-Millimeter-Kameras Filme drehen (die nie zu Ende gedreht wurden), Trips nach Drenthe machen, um die Hünengräben zu fotografieren, Bücher lesen... In der Schule von Tjeerd de Boorder stellte ich für mich fest, dass das Leben dadurch Schwung kriegt, dass man aktiv ist und gemeinsam etwas unternimmt. Was bisher in meinem Leben eine strikt geheime Tätigkeit war, nämlich: von mir aus etwas „kreieren“, wurde auf einmal eine öffentliche und kollektive Angelegenheit.

Die Freunde und Freundinnen hatten Eigennamen, die ich vom ersten Tag an innerlich greifen konnte. Ihre Namen – Lodewijk, Rob, Theo, Annette, Ina, Max, Paulus – gehörten zu mir, genau wie mein eigener Name, der erst durch die Namen meiner Kameraden und Freunde wirklich ein Name wurde. In der Bekanntschaft mit den Mitschülern wachte ich auf eine neue Art und Weise zu mir auf, ich bemerkte, dass ich „Jelle“ bin, eine vielschichtige Person, die kaleidoskopisch in den Spiegeln der anderen in Erscheinung tritt. Ich war ein Eigenname, das heißt: Kern und Peripherie zu gleich – ich nannte mich selbst so und wurde von anderen um mich herum auch so genannt und gemeint. Ich war aus einer Isolierung befreit und bis in mein Innerstes berührt worden.

17.07.2010

Sammy heute zu Samuel. Über die neuen Sternenwege

Lieber Samuel, es geschah auf einmal. Entscheidend war die Erkenntnis: unsere Gefängnisse bauen wir selbst. Erwartungen, Enttäuschungen, Überzeugungen haben immer zwei Gesichter: sie bewegen uns oder sie fixieren uns. Ohne Erwartungen läuft nichts, ja wir sind nicht einmal unterwegs, gleichzeitig aber schränken sie die Fülle der Erscheinungen auf Eindeutiges ein. Ein guter Freund von dir hat es einmal so gesagt: Wenn man unbedingt meint, Santiago de Compostella erreichen zu müssen, findet man den Gral nicht; aber ohne ein erkennbares Ziel würde man auch sich nie auf den Weg begeben...

Samuel, dein Freund ist schon vor längerem gestorben. Er hat hier oben gerade eine große Arbeit angefangen, er versucht die irdischen Bedingungen der Sternenwege auszuweiten, das heißt: sie bis in die Herzen der Großstädte zu verlegen, dort, wo die Schicksale der Menschen vibrieren. Er sagt, dass die Wanderwege nicht mehr von Nord nach Süd und dann von Ost nach West gehen, sondern von unten nach oben. Er meint: Schaue auf die Sterne und bleibe wo du BIST.

Samuel, du sitzt mit deinem Laptop an deinem Gartentisch und schreibst. Du hörst wie die Züge vorbei fahren. Hier oben sind die Züge da unten nur ganz schwer wahrzunehmen, sie sehen wie ein Vakuum aus, in das Menschen hineingehen und verschwinden, um irgendwo anders wieder aufzutauchen. Ja, die Menschen selber können wir immer noch spüren, versunken in sich selbst, ohne wirklich bei sich zu sein. Sie scheinen unterwegs zu sein, ohne unterwegs zu sein.

Ich bewege mich auf dich zu. Auf einmal stellte ich fest bereits unterwegs zu sein. Ich bin natürlich noch immer der Junge, der im Wohnzimmer seiner Eltern stecken geblieben ist, damals, als mir die Welt nach meiner Krankheit leer und öde schien, als ich die Haut meines Vaters nicht ertragen konnte, weil sie so fremd und aufdringlich war... Es macht keinen Sinn, so zu tun, als ob man auf einmal ein anderer Mensch werden könne, eine Neugeburt-ohne-Vergangenheit. Wenn man das versucht, baut man ein neues Gefängnis, das aus neuen unerfüllbaren Erwartungen besteht.

Man kann aber die Zukunft in seiner Vergangenheit zulassen. Als ich auf einmal unterwegs zu dir war – es geschah einfach – verwandelte sich das Wohnzimmer meiner Eltern in einen Ort, in dem einmal etwas geschehen war, in ein Denkmal einer spezifischen Vergangenheit, die sich allerdings neu arrangieren wollte. So ist das mit Denkmalen: sie rechnen mit der Zukunft. Weißt du warum Züge nie zum Denkmal werden können? Weil sie nicht auf die Zukunft ausgerichtet sind. Du wirst vielleicht sagen, dass Züge immer unterwegs sind – ich sage dir: Züge kommen nie vom Fleck.

Dein Freund arbeitet hier oben daran, dass die irdischen Wanderwege wieder als Sternenwege erkannt werden können. Von Sternen gibt es, wie du weißt, eine ganze Menge. Sie sind nicht nur vielfältig, sondern sie machen die unendliche Vielfältigkeit aus. Die Sterne SIND die Vielfalt. Mit den Sternen ist es so: man kann von einzelnen Sternen reden, ihnen einen Namen oder eine Nummer geben, sie eben in einem Raum, der allerdings nicht existiert, lokalisieren. Und man kann die Sterne auch in Paaren und Konstellationen darstellen, in Bildern also, die auf große und unbegreifliche Zusammenhänge hinweisen, die man spüren, aber eigentlich nicht verstehen kann.

Was jedoch bleibt, ist die erschütternde Tatsache, dass die Vielfalt die Auswahl überragt. Die Vielfalt der Sterne ist nicht klein zu kriegen, nicht einzuordnen, nicht in eine Historie einzubetten, nicht einer Weltanschauung oder einer Ideologie zu unterwerfen. Alle menschlichen Ansprüche können deswegen nur Angebote sein, dass heißt: offene Vorschläge von unten nach oben. Und es ist deinem Freund klar geworden: nur das Herz des Menschen kennt sich mit der Vielfalt aus, ist deswegen im Stande, der Weite gerecht zu werden.

Die neuen Sternenwege machen aus kleinen Orten große Orte. Die neuen Orte entstehen allerdings nur dann, wenn sich Menschen von unten auf den Weg nach oben begeben, also bleiben wo sie SIND. Ja, natürlich, lieber Samuel, es bleibt erlaubt sich ein neues Fahrrad zu kaufen, mit dem Auto nach Santiago zu fahren (wie dein Freund das damals gemacht hat, als er noch lebte – er wollte nicht zu Fuß) oder mit dem Zug nach Tintagel. Die neuen Orte liegen allerdings auf einer unsichtbaren Ebene, die nicht mit physischen Vehikeln zu erreichen ist. Sie befinden sich dort, wohin die Nähe zur Welt uns führt.

Ich bin fast bei dir angekommen. Dein Garten, deine Wohnung und deine Stadt machen einen kleinen Ort aus, der groß genug ist, um das Wohnzimmer meiner Eltern zu umfassen. Und noch wichtiger: Bei dir werden meine Eltern zu deinen Eltern, und ich werde zu dir. Wollen wir der Vielfalt der Sterne diese winzig-kleine Konstellation als Angebot machen? Vielleicht sind eben die Sterne überrascht, weil sie damit nicht rechnen konnten. So ist es doch mit Sternen: sie rechnen mit allem und damit mit nichts?

11.07.2010

Über den Ball als Geliebte

Spanien ist also Weltmeister geworden, verdient würde ich sagen. Die spanische Mannschaft ist wie eine Harmonika, die von zwei unsichtbaren Händen manchmal zart, manchmal wild, dann wieder cool oder verärgert bespielt wird. Die Mannschaft dehnt sich aus, zieht sich zusammen, neigt sich in die Länge, neigt sich in die Breite... Und der Ball ist eine gemeinsame und geteilte Geliebte, die gezielt dorthin gebracht werden soll, wo sie unbedingt hin soll, nämlich ins Tor der Gegner, das im Grunde genommen ein Bett ist.

Ich mag die spanische Mannschaft sehr. Aber auch die Deutschen haben mir Spaß gemacht. Podolski, Schweinsteiger, Özil, Müller und Klose haben über Wochen überzeugend bewiesen, eine intime Beziehung zum Ball zu haben. Vor allem Özil hat mich diesbezüglich beeindruckt. Wenn er den Ball an seinen Füßen hat, scheint das Ding sich in ein empfindsames Sinnesorgan zu verwandeln, so etwas wie ein rundum nacktes Auge, das gleichzeitig auf alle Mitspieler schaut und dem türkisch-deutschen Spieler telepathisch mitteilt, wohin der nächste Pass soll.

Und dann Klose... Jemand aus der deutschen Abwehr hat den Ball wild und weit nach vorne geschossen, einfach um vom feindlichen Druck befreit zu werden. Der Ball ist also unbestimmt unterwegs, dreht sich hoch oben in der Luft verunsichert um die eigene Achse, weiß also nicht so ganz genau, was das alles soll, kann sich dann nicht länger da oben halten und senkt sich alsdann in einer nicht nachvollziehbaren Kurve genau an die Stelle, an der sich gerade der rechte Fuß von Klose befindet. Dieser Fuß küsst den Ball, macht dann eine winzig kleine Bewegung, eine zarte Drehung, die eher wie eine Liebkosung ist, und bringt das runde Ding wieder zu sich selbst und damit ins Spiel.

Wunderschön... Es gibt allerdings noch ein paar Fußballspieler mehr, die es zu würdigen gilt. Leider hat Messi aus Argentinien seine Liebe zum Ball in den letzten Wochen kaum zeigen können. Der Grund ist ziemlich einfach: seine Gegner hatten so viel Angst vor ihm, dass er von mindestens vier stämmigen Kerlen andauernd überwacht wurde. Er konnte nirgends hin, nicht in den Osten, nicht in den Westen, nicht in den Süden, nicht in den Norden. Und als er etwas dazwischen ausprobieren wollte, etwa NNW, stand da ein fünfter Kleiderschrank. Schade, schade, weil Messi ohne Zweifel der rührendste Fußballspieler der Welt ist. Sein Trainer Maradonna nennt ihn „mein Maradonna“, aber er hat sich auf der taktischen Ebene leider nichts einfallen lassen, um seinen Augapfel aus seiner unmöglichen Lage zu befreien. (Er hätte ihn zum Beispiel nicht als Stürmer, sondern als Rechtsverteidiger aufstellen können. Wäre genial gewesen...)

Dann Arjen Robben. Der Holländer spielt wie der Teufel mit seinem ganzen Körper, wie Gott mit seiner Stirn. Robben treibt auf rechts nach vorne, nimmt den Ball mit seinem ganzen Körper mit, als ob das Ding wie ein Testikel an seinem Bauch baumelt, dreht nach rechts, dreht dann nach links, hält kurz inne, und alle Mitspieler und Zuschauer wissen: jetzt wird es geschehen! In der teuflischen Verwirrung entsteht bei den Gegnern ein kurzes Staunen, fußball-technisch heißt das „Lücke“, und in diese Lücke schickt Robben mit seinem mächtigen linken Bein die Kugel, die rechts oben im Tor landet, dort, wo die Hände des staunenden Torwarts gerade nicht hinreichen. So macht Robben das. Und seine Stirn? Davon hat er ganz viel, wie ein Flachland, das sich vertikal aufgerichtet hat. Wenn er den Ball ins Tor köpft, meint man, dass er den Ball dorthin GEDACHT hat.

Diego Forlán aus Uruguay. Er hat das erste Gegentor gegen die Holländer unerwartet-aber-sehr-elegant ins Netz gebracht. Forlán sieht ein bisschen aus wie ein Popsänger, der kurzfristig zu einer Party eingeladen worden ist, nicht so genau wusste, was er zu erwarten hatte, schnell seine Haare mit einem Haarband mehr oder weniger in Ordnung brachte und sich jetzt ohne Bedenken ins Feiern stürzt. Im herzlichen Ausnutzen von gebotenen Gelegenheiten ist Forlán ein Meister: er weiß eigentlich von nichts, ist an nichts beteiligt, schon gar nicht an solchen lästigen Vorgängen wie „Vorbereitungen“ und „Aufbau“ und „Aufräumen“, führt das Fest allerdings zu einem unvergesslichen Höhepunkt. Er macht das Fest zu einem Fest, weil er sich zu etwas eingeladen fühlt, was über das Fest hinaus geht.

Carles Puyol. Von dem Spieler aus Barcelona wird gesagt, dass er vielleicht nicht so ganz viel Talent hat, allerdings im Stande sei, eine ganze Mannschaft zusammen zu halten (als ob das kein Talent wäre). Als Fußballer scheint er mir reiner Wille zu sein. Meistens steht er ganz hinten, überblickt das ganze Spiel, greift aggressiv-aber-fair ein, schmeißt sich sozusagen in bedrohliche Situationen und löst sie mit Kraft und Intelligenz auf... Recht schön ist Puyol allerdings, wenn er in der Luft schwebt, was er oft und gerne auf unerklärliche Art und Weise macht: er sieht den Ball von rechts oben kommen, macht ein paar Schritte um Fahrt zu kriegen, löst sich rätselhaft ohne Flügel vom Erdboden, drängt mit seinem Kopf nach vorne, trifft die Kugel (ich meine eigentlich: er begegnet ihr) und hilft ihr gezielt ins Bett. Die deutschen Fans verstehen was ich meine...

05.07.2010

Samuel heute zu Sammy. Über die Stadt und Ballad in plain D

Lieber Sammy, es ist noch früh, die Strahlen der Sonne haben allerdings die höchsten Stockwerke der Häuser an der Eisenbahn schon erreicht. Sie leuchten auf, wie die Stirnen griechischer Philosophen. Als ich vor zehn Minuten in den Garten ging, um nach den Rosen zu sehen, war der Fuchs da. Er stand beim Teich, schaute mit seinem spitzen Blick kurz auf mich, und verschwand, erst hinter seinem Schwanz, dann mit seinem Schwanz zwischen den Brennnesseln. Er versteht noch immer nicht, dass er vor mir keine Angst zu haben braucht. Ich weiß leider nicht, wie ich die Kluft zwischen seiner Welt und meiner Welt überbrücken kann.

Die Stadt ist vom Sommer überflutet worden. Sogar die Geräusche der Züge klingen anders, als ob die Wärme von gestern, die die Nacht nicht vertrieben hat, das Reiben von Eisen auf Eisen sanft einbettet und in meinen Ohren verschmelzen lässt. Gerade kommt ein Güterzug vorbei, langsam, und wie es mir vorkommt: ohne ein Ziel, so, als ob Rotterdam oder Antwerpen oder Hamburg in der Hitze sowieso nicht zu lokalisieren sind. Wenn es warm ist, scheinen Ziele zu verschwinden. Füchse haben davon allerdings offenbar kein Wissen, sie bleiben immer wach.

Lieber Sammy, ich habe es schon verstanden: du bist unterwegs zu mir. Die Stirnen der Häuser denken an dich, die Züge bringen einen Hauch von dir, die Lücken in den Vierteln flüstern von dir... Und vor allem die Vögel: sie berichten davon, dass du im Kommen bist, dass du dich von deinem Schreck losgelöst hast, nicht länger im Wohnzimmer deiner Eltern verbleibst, sondern in Luftbewegungen schwebst, nein, nicht frei „from the chains of the skyway“, sondern gerade von deren ziellosen Schwingungen getragen.

Die Stadt ist eine vibrierende Schale. In ihrem Herzen quillt eine goldene Kraft, die aus dem Inneren der Erde heraufkommt, sich durch Tiefgaragen hocharbeitet, die großen Frauen der Geschichte in sich aufnimmt und ihnen endlich die richtigen Rollen gestattet, die Toten zum aktuellen Leben erweckt, die Lebenden auf den wahren Tod vorbereitet... Ich habe es schon verstanden: es ist diese Kraft, die dich sucht, dich von deiner Vergangenheit befreien will, dich anzieht – und umgekehrt: es ist dieser Zauber, den du suchst, den du in deinem Schweben da oben vor Augen hast.

Deine Reise geht erst ostwärts und dann südwärts. Von dir aus gesehen sieht der große Fluss wie eine Ader für ganz Deutschland aus, die immer noch mächtige Intuitionen herunter holt und gegen den Wasserstrom über die vielen Nebenflüsse bis in die Großstädte und in die Kleinstädte und in die Dörfer und in die Weiler bringt, ja, weit an der Stadt vorbei, wo ich lebe (und der Fuchs) und wo die Menschen warten, ohne es zu wissen. Ostwärts gehen bedeutet für dich: von links nach rechts schreiben. Für mich bedeutet es allerdings, dass ich wieder lernen muss, von rechts nach links zu lesen. Und ich räume ein, dass dies mir manchmal nicht leicht fällt.

Die Stadt erwartet dich. Manchmal leuchtet die Wiese in meinem Garten auf einmal ein bisschen auf, als ob sie im Kleinen macht, was im Großen geschieht: ein Aufwachen im Warten, dass aber kein Warten mehr ist, sondern ein Ankommen-im-Kommen. Irgendwie scheinen Wiesen, auch wenn sie klein sind, an großen Ereignissen beteiligt zu sein – sie können leuchten, auch wenn die Sonne sich hinter den Wolken verbirgt. Alles was sich zur Schale neigt, offenbart was Schale ist: aufnehmen und weiter schenken wollen. (Wenn eine Amsel morgens früh auf der Wiese hin und her hüpft – ja, um Würmer zu suchen – betont sie nur, dass die Wiese eine Schale ist.)

Ich warte auf dich. Im Garten unter dem Efeu, direkt neben der Hausmauer wartet bereits eine kleine Bank, die nie benutzt wird, weil sie für dich und für mich gemeint ist. So wird das mit uns sein: wir werden nebeneinander sitzen, nicht einander gegenüber, weil wir nur so gleichzeitig schreiben und lesen können, von rechts nach links. Und ich werde dir von den großen Songs erzählen, die ich kennen gelernt habe, nachdem wir uns damals getrennt haben. Das erste Lied wird sein: Ballad in plain D. Ich werde es für dich auf der Gitarre spielen, gleichzeitig von links nach rechts und von rechts nach links. Ich bin schon dabei, das Lied zu üben.