Wir schreiben Herbst 1970. Mein Freund & ich haben zwei Stunden zuvor LSD eingenommen. Nach einer heiteren Wanderung sind wir aus Versehen auf dem Seitenstreifen einer Autobahn gelandet. Als ich eine Sirene höre, schaue ich nach links & sehe in der Ferne ein Blaulicht aufblitzen. Und irgendwo weit weg in mir klingt ein Wort, das ich aber nicht wirklich beachten kann, weil der Eindruck des pulsierenden Lichts mich komplett vereinnahmt.
„Polizei“, besagt das Wort. Eine tiefe & panische Angst kommt hoch, die sich bis in meine Gliedmaßen ausbreitet & mich überrumpelt. Alles, was irgendwie mit Gedanken oder Überlegungen oder Wörtern zu tun hat, wird aus mir weggeblasen, wie leere Plastiktüten in einem Sturm. Als die blitzenden rot-blauen Lichter mich erreichen & an mir vorbei sausen, scheinen sie ein riesiger Vogel zu sein, der wütend-heulend seine Opfer sucht.
Mit den Lichtern & der Sirene verschwindet auch die Angst. Was in mir übrig bleibt, ist eine Leere, eine Stille, ein Vakuum, wo ein silberner Glanz sich, wie das Licht des Mondes in einer frostigen Winternacht, bis in die letzten Ecken vorschiebt & verbreitet. Mein Freund will aber weiter. „Komm“, sagt er, „nicht weit von hier gibt es ein Kaffeehaus. Dort können wir etwas trinken.“
Mein Freund geht zügig voran & ich wackle hinterher. Nach einer Weile merke ich, dass ich nicht mehr alleine bin. Direkt rechts von mir geht ein schmaler Mann in einer braunen Jacke. Seine langen Haare liegen glatt auf seinen Schultern. Als er kurz seinen Kopf nach links dreht – nein, er schaut mich nicht an – sehe ich, dass er genau wie ich eine Brille aus Kupfer auf der Nase hat. Und sofort stelle ich erschreckt fest: der Mann sieht genauso aus wie ich.
Er scheint mir bis in seine Knochen arrogant & ignorant zu sein, als ob seine ganze Gestalt einen Stolz verkörpert, der peinlich unbegründet ist. Er scheint so zufrieden in sich selber zu sein, dass er auf nichts achtet, nichts für bemerkenswert hält, außer sich selbst. Obwohl er kein Wort sagt, weiß ich, dass er ein flottes Mundwerk hat. Er würde seinen Zuhörern das Gefühl vermitteln: ihr seid strohdumm.
Seine lockeren Bewegungen & seine selbstbewussten Schritte & die Worte die er sprechen könnte, sind gewandte Täuschungen, die gerade nichts offenbaren, sondern eine Leere verbergen müssen, ein grauenhaftes Nichts, das wie ein Loch in seinem Inneren gähnt. Das, was er vorgibt zu sein, nämlich, eine Person die sich auskennt in der Welt, ist er gerade nicht, weil seine Welt öde ist.
Mit dem Zunehmen der Angst gerate ich in eine Panik, die den Beobachter in mir zurückweist & schrumpfen lässt, bis zu einer winzigen Glühbirne ganz oben an einer Decke. Mir steht mein Denken nicht mehr zur Verfügung, meine Gefühle haben sich in Emotionen verwandelt & mein Wollen ist ein Nicht-Wollen geworden.
Ich will nicht mehr leben. Ich will weg von dieser Wahrheit, die eine Lüge ist. Ich kann den Anblick der Gestalt nicht mehr ertragen, weiß aber nicht, wie ich sie loswerden kann. Als ich auf dem Asphalt liege & nur noch ein Haufen Angst bin, denke ich: „Suche eine Brücke & springe runter!“
Mein Freund kommt auf mich zu gerannt, zieht mich auf meine Beine & sagt: „Jelle, Jelle, Jelle, du hast LSD genommen! Weißt du noch? LSD! Du bist in einem bad trip gelandet. Was du erlebst, ist nicht real. Alles sind Halluzinationen! Komm zurück! Schaue mich an! Ich stehe hier vor dir. Höre auf mich!“ Und das Wunder geschieht: ich komme langsam wieder zu mir, schaue meinem Freund in die Augen, spüre seine Hände in meinen Händen & merke, dass es ein Gegenüber gibt.
Ich habe Jahr um Jahr gebraucht, um die Begegnung mit meinem Doppelgänger zu verarbeiten. Ich verdanke der Erfahrung die Erkenntnis, dass in mir eine ungeheure Angst schlummert, die weit über alles Psychologische hinaus geht & anders als mein Freund damals meinte, sehr-sehr-sehr real ist.
In meinem Leben bin ich bis heute nie mehr an eine so düstere Stelle gekommen, wo ich mich hätte umbringen wollen – stärker noch: ich meine, dass die Erfahrung mich schützt, weil sie mir eine reale Schwelle aufgedeckt hat, die ich besser nicht unvorbereitet überschreite.
Mit Dank an Sophie Pannitschka