31.01.2010

Der Mann im langen schwarzen Mantel. Er war schon immer da

The man in the long black coat... Das Lied von Bob Dylan trifft zu. Der Mann erscheint unerwartet & schweigend irgendwo am Rande deines Lebens, at the old dance hall on the outskirts of town, und bringt Katastrophales.

Es ist unmöglich seine Gestalt & sein stilles Verhalten auf irgendeine vertraute Herkunft zurückzuführen – er geht ja getarnt in einem langen schwarzen Mantel herum, had dust on his face & sagt kein Wort.

Der Mann hat offenbar irgendwann für sich eine Entscheidung getroffen, die ihn aus der bekannten Welt der umliegenden Dörfer & Städte & Regionen heraus gehebelt & seine Erscheinung in eine vertikale Spannung versetzt & damit eine andere Art der Wahrheit freigesetzt hat.

Von ihm geht eine ungreifbare Bedrohung aus, die darauf zu beruhen scheint, dass horizontale Ordnungen ihre Wirkung verlieren.

Der Mann ist der Tod.

Der Mann macht Geschichte, weil er keinen Grund zum Zweifeln hat. Er ist, was er ist & einen Freiraum für Interpretationen oder Überlegungen oder Spekulationen bietet er nicht. Um seinem Anliegen nachzugehen, braucht er nichts zu sagen, nichts zu tun oder zu lassen, nichts zu kombinieren.

Um zu sein, was er ist, braucht er nur zu sein, was er ist, was aber für dich heißt, dass er unvermeidlich erscheint. Du könntest meinen, dass es eine Zeit gab, in der er noch nicht da war; er weiß aber, dass er schon immer da war.

Du hast ihn nur nicht gesehen.

25.01.2010

Wie ich mir begegnete. Über meinen letzten LSD-Trip

Wir schreiben Herbst 1970. Mein Freund & ich haben zwei Stunden zuvor LSD eingenommen. Nach einer heiteren Wanderung sind wir aus Versehen auf dem Seitenstreifen einer Autobahn gelandet. Als ich eine Sirene höre, schaue ich nach links & sehe in der Ferne ein Blaulicht aufblitzen. Und irgendwo weit weg in mir klingt ein Wort, das ich aber nicht wirklich beachten kann, weil der Eindruck des pulsierenden Lichts mich komplett vereinnahmt.

„Polizei“, besagt das Wort. Eine tiefe & panische Angst kommt hoch, die sich bis in meine Gliedmaßen ausbreitet & mich überrumpelt. Alles, was irgendwie mit Gedanken oder Überlegungen oder Wörtern zu tun hat, wird aus mir weggeblasen, wie leere Plastiktüten in einem Sturm. Als die blitzenden rot-blauen Lichter mich erreichen & an mir vorbei sausen, scheinen sie ein riesiger Vogel zu sein, der wütend-heulend seine Opfer sucht.

Mit den Lichtern & der Sirene verschwindet auch die Angst. Was in mir übrig bleibt, ist eine Leere, eine Stille, ein Vakuum, wo ein silberner Glanz sich, wie das Licht des Mondes in einer frostigen Winternacht, bis in die letzten Ecken vorschiebt & verbreitet. Mein Freund will aber weiter. „Komm“, sagt er, „nicht weit von hier gibt es ein Kaffeehaus. Dort können wir etwas trinken.“

Mein Freund geht zügig voran & ich wackle hinterher. Nach einer Weile merke ich, dass ich nicht mehr alleine bin. Direkt rechts von mir geht ein schmaler Mann in einer braunen Jacke. Seine langen Haare liegen glatt auf seinen Schultern. Als er kurz seinen Kopf nach links dreht – nein, er schaut mich nicht an – sehe ich, dass er genau wie ich eine Brille aus Kupfer auf der Nase hat. Und sofort stelle ich erschreckt fest: der Mann sieht genauso aus wie ich.

Er scheint mir bis in seine Knochen arrogant & ignorant zu sein, als ob seine ganze Gestalt einen Stolz verkörpert, der peinlich unbegründet ist. Er scheint so zufrieden in sich selber zu sein, dass er auf nichts achtet, nichts für bemerkenswert hält, außer sich selbst. Obwohl er kein Wort sagt, weiß ich, dass er ein flottes Mundwerk hat. Er würde seinen Zuhörern das Gefühl vermitteln: ihr seid strohdumm.

Seine lockeren Bewegungen & seine selbstbewussten Schritte & die Worte die er sprechen könnte, sind gewandte Täuschungen, die gerade nichts offenbaren, sondern eine Leere verbergen müssen, ein grauenhaftes Nichts, das wie ein Loch in seinem Inneren gähnt. Das, was er vorgibt zu sein, nämlich, eine Person die sich auskennt in der Welt, ist er gerade nicht, weil seine Welt öde ist.

Mit dem Zunehmen der Angst gerate ich in eine Panik, die den Beobachter in mir zurückweist & schrumpfen lässt, bis zu einer winzigen Glühbirne ganz oben an einer Decke. Mir steht mein Denken nicht mehr zur Verfügung, meine Gefühle haben sich in Emotionen verwandelt & mein Wollen ist ein Nicht-Wollen geworden.

Ich will nicht mehr leben. Ich will weg von dieser Wahrheit, die eine Lüge ist. Ich kann den Anblick der Gestalt nicht mehr ertragen, weiß aber nicht, wie ich sie loswerden kann. Als ich auf dem Asphalt liege & nur noch ein Haufen Angst bin, denke ich: „Suche eine Brücke & springe runter!“

Mein Freund kommt auf mich zu gerannt, zieht mich auf meine Beine & sagt: „Jelle, Jelle, Jelle, du hast LSD genommen! Weißt du noch? LSD! Du bist in einem bad trip gelandet. Was du erlebst, ist nicht real. Alles sind Halluzinationen! Komm zurück! Schaue mich an! Ich stehe hier vor dir. Höre auf mich!“ Und das Wunder geschieht: ich komme langsam wieder zu mir, schaue meinem Freund in die Augen, spüre seine Hände in meinen Händen & merke, dass es ein Gegenüber gibt.

Ich habe Jahr um Jahr gebraucht, um die Begegnung mit meinem Doppelgänger zu verarbeiten. Ich verdanke der Erfahrung die Erkenntnis, dass in mir eine ungeheure Angst schlummert, die weit über alles Psychologische hinaus geht & anders als mein Freund damals meinte, sehr-sehr-sehr real ist.

In meinem Leben bin ich bis heute nie mehr an eine so düstere Stelle gekommen, wo ich mich hätte umbringen wollen – stärker noch: ich meine, dass die Erfahrung mich schützt, weil sie mir eine reale Schwelle aufgedeckt hat, die ich besser nicht unvorbereitet überschreite.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

17.01.2010

Politik der Freundschaft. Vier berühmte Zitate poetisch arrangiert

Aristoteles:
O meine Freunde,
es gibt
keinen Freund.

Friedrich Nietzsche:
O meine Feinde,
es gibt
keinen Feind.

Jacques Derrida:
Freundschaft ist nie
eine gegenwärtige
Gegebenheit. Sie
ist der Erfahrung
des Wartens,
des Versprechens,
der Verpflichtung
anheim gegeben.
Ihr Diskurs ist der
des Gebets. Er
konstatiert nichts,
er stiftet, er beruhigt
sich nicht bei dem,
was ist. Er ist
unterwegs
zu jenem Ort,
an dem eine bestimmte
Verantwortung
sich die Zukunft öffnet.

Aristoteles laut Jacques Derrida:
Der eigentliche politische Akt
besteht darin
soviel Freundschaft
wie möglich
zu stiften.

*** *** *** *** ***

(Erläuterung: Das Zitat von Aristoteles ist in seinen Schriften nicht zu finden. In der Geschichte der Philosophie taucht es aber immer wieder auf, so, als ob er es ganz sicher gesagt hätte. Das Zitat ist als eine Anrede und als eine Klage zu verstehen. Aristoteles redet zu seinen „Freunden“ und sagt betrübt: „Es gibt keinen Freund“. Die Aussage von Nietzsche ist eine Reaktion auf das Zitat von Aristoteles. In seinem Zitat versucht Derrida das Paradox bei Aristoteles in Bewegung zu bringen. Freundschaft, meint er, ist immer im Kommen. Damit kreiert Derrida auf einer höheren Ebene ein neues Paradox: das Zukünftige wird als Gegenwart dargestellt. Alle Zitate aus: Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Suhrkamp 2002)

10.01.2010

Fragment übers Rauchen. (1) Wie ich als Jugendlicher dazu kam

Ich begann mit dem Rauchen, als ich sechzehn Jahre alt war. Ich erinnere mich an meine erste Zigarette noch ganz genau. Ich hatte eine Schachtel Philipp Morris gekauft, ohne Filter, weil ich den Tabak direkt an meinen Lippen spüren wollte. Noch vor dem Kiosk entzündete ich eine Zigarette, zog den Rauch tief in meine Lungen & stellte sofort fest: das Rauchen ist eine Bereicherung.

Anscheinend mögen viele Menschen ihre erste Zigarette nicht – bei mir war das also anders. Ich würde heute eher sagen, dass ich eigentlich schon abhängig war, bevor ich richtig angefangen hatte. Mit der Wirkung des Nikotins-als-Substanz konnte das allerdings nichts zu tun haben, weil es eben meine erste Zigarette war. Die offenbar veranlagte Abhängigkeit lag auf einer anderen Ebene.

Weil ich in der Schule als Jugendlicher Probleme hatte & mein Onkel Herman gut Deutsch und Englisch konnte & außerdem auch noch arbeitslos war, hatte mein Vater gemeint, dass er mir bei meinen Schularbeiten helfen könnte. Im Büro meines Vaters in unserer Wohnung – er war Gewerkschafter – saßen wir nachmittags einmal in der Woche an einem kleinen Tisch & beschäftigten uns mit englischen & deutschen Gedichten. Meine Mutter brachte Tee & Onkel Herman rauchte Zigaretten.

In der Art & Weise wie er eine Zigarette an seine Lippen nahm, kurz und kräftig zog & in einen Sog geriet, so dass er für eine kurze Weile gar nicht mehr da war, sondern irgendwo anders verweilte, und dann sofort wieder begeistert von deutschen & englischen Dichtern weiter erzählte, erlebte ich etwas Beruhigendes & Vertrautes & Dunkles. Sein Rauchen verriet eine innere Bewegung, die sich sonst nicht so deutlich offenbarte.

Und diese innere Bewegung vollzog sich auch in mir. Auch in mir gab es Dichter, obwohl ich sie gar nicht kannte. Sie schienen aber eine Wirklichkeit von Menschen & Schöpfungen & Bedeutungen zu repräsentieren, die weit über die mir bekannte Welt hinausgingen. Als mein Onkel Hermann von Novalis oder Shelley sprach, schien er mir ein Botschafter eines besonderen Landes zu sein, das ich unbedingt kennen lernen wollte.

Wenn er erzählte & ich zuhörte, war ich irgendwie so bei ihm, dass ich in mir nachspüren konnte, was geschah, wenn er rauchte. Ich spürte, dass ein kräftiger Sog ihn über eine Schwelle führte, bis ins verbotene Reich der Abenteuer. Dort blickte er kurz auf Johann Wolfgang Goethe & kam dann sofort wieder zurück, um aufgeregt von Sensationellem zu berichten.

Er sagte dann: „Weißt du, dass Goethe mit seinem Faust wirklich sagen wollte, dass wir ohne den Teufel gar keine Poesie hätten?“ Mein Vater, der manchmal zuhörte, war mit dieser Behauptung einverstanden – aus seiner Sicht waren Dichter sowieso teuflisch. Als mein Onkel eines Tages meinte, dass auch die Psalmen in der Bibel als Dichtung verstanden werden müssten, sagte mein Vater: „Erzähle deinen Unfug bitte in der Kneipe!“. Mein Onkel ging aber davon aus, dass man das richtige Leben erst in einer Kneipe kennen lernen konnte.

Mein Onkel war ein guter Lehrer, weil er nur mit Texten arbeitete, die er liebte. Die deutschen Fälle, Dativ & Akkusativ – für Holländer eine geheimnisvolle Sache, vor allem in Zusammenhang mit den Präpositionen – vermittelte er mir mit Hilfe von Gedichten. Er lies mich schreiben: „Hast auch du/ ein menschliches Herz,/ dunkle Nacht?/ Was hältst du/ unter deinem Mantel?“ & fragte dann, warum Novalis „deineM Mantel“ geschrieben hatte & nicht dein oder deine oder deiner oder deinen Mantel.

Ein M am Ende eines Artikels findet man in der holländischen Sprache weit & breit nicht. Für Holländer ist gerade dieses M sehr komisch. „Man nennt das in Deutschland den Wem-Fall“, erklärte mein Onkel. Und er listete die Präpositionen auf, die einen Wem-Fall erzeugen, wenn ein „Sich-dort-Befinden“ gemeint ist: „an, auf, hinter, neben, in, über, unter, vor & zwischen...“

Er fügte geduldig hinzu: „Wenn aber ein Dort-Ankommen gemeint ist, verlangen diese Präpositionen nicht einen Wem-Fall, sondern einen Wen-Fall.“ Er meinte, dass Novalis zum Beispiel hätte schreiben können: „Du dunkle Nacht,/ darf ich meine Hand/ unter deineN Mantel stecken?“ Er zog an seiner (nicht: seine) Zigarette & lachte alsdann wie eine Trompete.

Und irgendwie schien es mir so zu sein, dass seine würzige Geistigkeit mit den Zigaretten zusammenhing.

02.01.2010

Wie spüre ich meinen Körper? Über Körperlichkeit und Aufmerksamkeit

Ich liege in meinem Bett & stelle mir die Frage: Mit welchen Sinnesorganen spüre ich eigentlich meinen Körper? Oder genauer gesagt: Welche körperlichen Organe vermitteln mir, was in meinem Körper vorgeht? Wie nimmt mein Körper meinen Körper wahr?

Mit meinen Ohren? Nun ja, sehr beschränkt. Ich höre - weil es ganz still ist - ein Sausen in meinen Ohren & ich weiß, dass das durch das Strömen des Blutes verursacht wird. Und ich weiß auch, dass ich manchmal das Klopfen meines Herzens & das Knurren meines Bauches hören kann. Aber sonst?

Mit meinem Geschmack? Auch nur sehr beschränkt. Eigentlich schmecke ich im Moment nur den Speichel in meinem Mund – es schmeckt fade, ein bisschen wie Eisen, oder wie ein kraftloser Pfirsich... Mit meiner Nase? Ich rieche schon eine Menge Gerüche, die aber mit meinem Körper nichts zu tun haben, sondern externen Ursprungs sind.

Mit meinen Augen? Ich könnte meine Hände sehen, wenn ich es wollte. Und wenn ich es ganz bestimmt wollte, könnte ich mit meinem linken Auge die linke Seite & mit meinem rechten Auge die rechte Seite meiner Nase sehen. Der Rest meines Körpers liegt verborgen unter einer Decke.

Und mit meinem Tastsinn? Ich spüre, wie mein Körper auf dem Bett liegt – vor allem bei meinen Schultern & meinem Gesäß & den Fersen meiner Füße. Und wenn ich es wollte, könnte ich die Haut meines Gesichtes berühren, ich könnte sogar meine Hände sich gegenseitig anfassen lassen & quasi verdoppeln, das heißt: gleichzeitig wahrnehmen & wahrgenommenen werden.

Wohin ich meine Aufmerksamkeit in meinem Körper aber auch schicke, ich spüre überall etwas Unbestimmtes, in meinen Füßen, meinen Beinen, meinem Bauch, meiner Brust... Und was ich spüre, geht weit über die Wahrnehmungen meiner fünf Sinnesorgane hinaus – sie machen sich als ein leises Vibrieren oder Prickeln oder Schwingen bemerkbar. Ich nehme an, bin mir aber nicht sicher, dass ich meine Nerven spüre, bis in die kleinsten Verzweigungen, an den Orten wo sie sich bis zur Auflösung verästeln & verdünnen.

Und ich denke: das sanfte Vibrieren fängt gerade dort an, wo die Nerven nicht einmal mehr fein-feiner-feinst sind, sondern sich im Aufhören befinden, sich in der Auflösung ausweiten. Ist es nicht gerade dort, wo sich unsere Bewusstheit aufhält: dort, wo die Körperlichkeit aufhört? Oder ist es eher umgekehrt, dass die Körperlichkeit gerade da anfängt, wo das Bewusstsein aufhört?

Die Frage deckt eine Entscheidung auf, die ich unbewusst schon getroffen hatte, bevor ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Körper richtete. Ich hatte mich nämlich dazu entschieden, auf die körperlichen Erscheinungen zu schauen, das heißt: ich hatte die Erscheinungen schon als „körperlich“ eingeordnet, bevor ich meine Aufmerksamkeit auf sie richtete. Ich hätte auch eine andere Entscheidung treffen können, nämlich auf meine Aufmerksamkeit zu achten. Hätte ich das gemacht, wäre ich erst in zweiter Instanz auf meinen Körper gestoßen.

Das Vibrieren & Prickeln & Schwingen wäre über diesen zweiten Weg erst einmal keine körperliche Erscheinung gewesen, sondern einfach ein Phänomen, das sich im Blickfeld meiner Aufmerksamkeit zeigt. Ich hätte die Phänomene dann eher als eine Art Abgrenzung meines Bewusstseins verstanden, als Boden & Wand & Decke meines Innenraumes. Und ich hätte gemeint: dort wo das Vibrieren sich im Dunkel verliert & aufhört Empfindung zu sein, fängt mein Körper an.

Mein Fleisch & meine Organe & meine Muskeln (das Herz ist auch ein Muskel) & meine Knochen befinden sich hinter diesem vibrierenden Schleier. Sie liegen dort verborgen wie lebendige Schätze, die man tötet, sobald man sie ausgräbt. (Das haben ja anscheinend die Azteken damals gemacht: die Herzen aus dem Brustkorb gerissen & den Göttern geopfert.) Vom Bewusstsein her gesehen ist mein Körper mir also fremd, genauso wie die ganze Erde mir fremd ist.