22.02.2010

„Die unendliche Liste“ von Eco. Text über Obsessionen und Wahrheiten

Schreibt Umberto Eco in seinem Buch: „Die Unendlichkeit der Dinge überschaubar zu machen, ist eine der Obsessionen der Menschheit“. Angeloi, Archangeloi, Archai, Exusiai, Dynamis, Kyriotetes, Throne, Cherubime & Seraphime. (Sind aber keine Dinge.)

Rainer Maria Rilke, Gerrit Achterberg, Pablo Neruda, Samuel Taylor Coleridge, Ida Gerhardt. (Sind auch keine Dinge.) Und: Bob Dylan, Captain Beefheart, Sylvio Rodriguez, Van Morrison & Tom Waits. Und: Michel Foucault, Martin Heidegger, Simone Weil, Walter Benjamin & Hannah Arendt. Und: Denken, fühlen & wollen.

Kaffee, Tabak, Schokolade & Wein. (Sind ja Dinge. Oder?) Fahrrad, Auto, Zug, Straßenbahn & Flieger. Und: Marcel Proust, Virginia Woolf, Wolfram von Eschenbach, Saul Bellow, James Joyce. Und: Kubrik, Fellini, Herzog, Tarkowskij & Bertolucci. Sonne, Sternen, Glühbirnen & Kerzen. Competence & Performance. Instinkt, Trieb, Begierde, Motiv, Wunsch, Vorsatz & Entscheidung.

Das Wahre, das Schöne & das Gute. Ebertplatz (war mal Adolf Hitlerplatz), Friesenplatz, Rudolfplatz, Zülpicherplatz, Barbarossaplatz, Chlodwigplatz. Gehirn, Herz & Leber. Sex, Drugs & Rock ´n Roll. Merle, Elise, Matthijs & Joachim – (meine Kinder!) Doesburg, Arnhem, Utrecht, Zutphen, Amsterdam & Köln.

Jamon Ibiricon, Pesto Verde, Friese nagelkaas, Zeeuwse spek & asado. Und: Rudolf Steiner, Ita Wegman, Bernard Lievegoed, Owen Barfield & Walter Johannes Stein. Und: Lima, New York, Chicago, Paris & Singapur. Und: Rembrandt van Rijn, Mondriaan, Paul Cézanne, Mark Rothko & Barnett Newman.

Glaube, Hoffnung & Liebe. Vater, Sohn & heiliger Geist. Imagination, Inspiration & Intuition. Täter & Opfer & Zuschauer. Salz, Merkur & Sulpher. Morgen, Mittag, Abend & Nacht. Erde, Wasser, Luft & Feuer. Oben & unten. Messer, Schere, Schraubenzieher, Hammer & Feile. Amfortas, Parzival & Gawan. Kundry & Kundry & Kundry. Opium, Poesie & Sehnsucht. Süddeutsche, Frankfurter Allgemeine, TAZ & Kölner Stadtanzeiger.

Berlin, München & Dornach. Churchill, Roosevelt & Stalin. Yesterday, Ruby Tuesday, Yolanda. U2, Youtube & you-two-too. Leben & sterben. Dik & dun. De Dikke & de Dunne. Rot, blau, grün, gelb, braun & lila. Freiheit, Gleichheit & Brüderschaft. Matthäus, Markus, Lukas & Johannes. Osiris, Isis & Horus. Basilikum, Oregano & Rosmarin. Lichtung, Innenraum & Aura. Verpackungen, Papier & Restmühl. Marx, Engels & Lenin. Gaffel, Früh & Sion.

Liste, Aufzählung, Katalog, Summae, Enzyklopädie, Dichtung... Sagt Coleridge: „Poetry is the right words in the right order.“

14.02.2010

Eine Vereinigung für Kindheit. Über eine Lichtung ins Offene

Ich nehme mir diese Woche die Freiheit, auf diesem Weblog ein Thema anzusprechen, dass wahrscheinlich nur ganz wenig Leser interessiert. Es betrifft folgende Frage: welche Aufgabe hat die Vereinigung der Waldorfkindergärten in Deutschland? Mich beschäftigt diese Frage natürlich auch deswegen, weil ich im Rahmen dieser Vereinigung tätig bin. Darüber hinaus aber meine ich allerdings, dass hinter dieser Frage noch eine zweite steckt, nämlich: wie verhalten anthroposophische Einrichtungen sich zurzeit zu ihrem eigenen anthroposophischen Impuls?

Ich möchte anfangen mit einer Aussage von Bernard Lievegoed, einem Anthroposophen aus Holland, der eine ganze Reihe von anthroposophischen Einrichtungen gegründet hat. Er starb 1992. Kurz vor seinem Tod erzählte er mir von einem dieser Institute, dem NPI, einem erfolgreichen Büro für Organisationsentwicklung in Zeist. Sinngemäß sagte er: „Die eigentliche Aufgabe des NPI lag gar nicht darin, Organisationen in ihrer Entwicklung zu helfen. Nein, die spirituelle Aufgabe war diese: den Begriff der Entwicklung in Bezug auf Organisationen in die öffentliche Gesellschaft zu bringen“.

Die Waldorfkindergärtenvereinigung in Deutschland vereinigt zirka 500 Kindergärten. Die Struktur der Vereinigung ist ziemlich kompliziert, lässt sich aber vielleicht so beschreiben: Mitglieder der Vereinigung sind alle Kindergärten, die „Delegierte“ zu den Treffen schicken, wo Entscheidungen getroffen werden. Neben einem Vorstand und einer Geschäftsführung gibt es allerhand Gremien, wie zum Beispiel einen Wirtschaftskreis, eine Seminardelegiertenkonferenz, einen PR-Rat und verschiedene Arbeitsgruppen, die sich auf bestimmte inhaltliche Fragen konzentrieren.

Wichtig ist auch zu wissen, dass die unterschiedlichen Regionen, wie NRW und BW und Niedersachsen, autonom über bestimmte Sachfragen entscheiden können. Die oft unklare Beziehung zwischen Ländern und Bund, so charakteristisch für Deutschland überhaupt, spielt in der Vereinigung eine große Rolle. Die „reichen“ Länder haben dabei oft das Sagen, weil sie die meisten Kindergärten und deswegen die meisten Delegierten haben.

Seit mehreren Jahren wächst die Vereinigung nicht mehr. Es kommen kaum noch neue Waldorfkindergärten dazu. Stärker noch: es gibt schon ein paar Waldorfkindergärten, überall in Deutschland, die sich ernsthaft überlegen, aus der Vereinigung auszutreten. Sie meinen, dass die Vereinigung zu viel kostet, zu wenig leistet oder zu bürokratisch agiert. Im Grunde genommen ist es für Waldorfkindergärten nicht mehr eine Selbstverständlichkeit, Mitglied der Vereinigung zu sein.

Auf die Vereinigung kommen aber neue Aufgaben zu, die in finanzieller Hinsicht jeden Rahmen sprengen. Zu erwähnen sind: die Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit, die Vorbereitung der Ausbildung zum Erzieher auf Hochschulebene und die Finanzierung von zehn berufsbegleitenden Seminaren (statt sieben). Die Vereinigung steckt also in einer Klemme: um vorwärts zu kommen, wird mehr Geld gebraucht, was es aber nicht gibt. Das Loch betrifft locker zirka 300.000 Euro jährlich.

Was nun? Ich meine, dass die eigentliche Krise der Vereinigung in der Tatsache liegt, dass sie sich als eine „Vertretung-von-Einrichtungen“ versteht und definiert. Die Hauptsache in der Vereinigung ist immer wieder die Frage: Wie können die Waldorfkindergärten, die Fachschulen und die Seminare als Institutionen überleben? Auf unterschiedlichen Ebenen hat dieses Selbstverständnis eine verheerende Wirkung. Wenn es zum Beispiel um die berufsbegleitenden Seminare geht, kann man oft den Eindruck haben, dass sie sich manchmal wie Konkurrenten verhalten (was in gewissem Sinne natürlich auch stimmig ist).

Mir scheint es aber so zu sein, dass der anthroposophische Erziehungsimpuls eine öffentliche Vertretung braucht, die über die Belange der verschiedenen Einrichtungen hinausgeht. Letztendlich geht es nicht nur um die Frage, wie die Waldorfkindergärten überleben können, sondern vor allem um die „spirituelle Aufgabe“ (Lievegoed), nämlich, die anthroposophische Sichtweise auf aktuelle Erziehungsfragen weiter zu entwickeln und in der Öffentlichkeit FREI zu vertreten. Den Gedanken der Waldorferziehung könnte es überall geben, zum Beispiel auch in Kindergärten und Horten und Tagesstätten, die sich gar nicht als Waldorf-Einrichtung verstehen.

Um diese Aufgabe zu ergreifen, so meine ich, könnte die Vereinigung sich in eine Art „Amnesty International“ für Kindheit verwandeln. Das würde heißen, dass die Grundstruktur der Vereinigung aus individuellen Personen (also nicht aus Einrichtungen) bestehen wird, Privatpersonen also, die aus freiem Entschluss den Impuls der anthroposophischen Erziehung unterstützen. Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, Nachbarn, Erzieher und Erzieherinnen, aber auch Lehrer und Politiker und Journalisten und Künstler und Bäcker und Handwerker und (ja: sogar!) Dichter, können sich in diese neuen Strukturen finanziell und kreativ einbringen.

Ich meine, dass diese Wende auch im Sinne Rudolf Steiners wäre, dem Urheber des anthroposophischen Erziehungsimpulses. Natürlich bleibt die Frage offen, wie die Waldorfkindergärten sich im Rahmen dieser Lichtung-ins-Offene organisieren. Innerhalb der Vereinigung könnte es aber eine Ebene geben, auf der Qualitäts-, Rechts- und Wirtschaftsfragen getrennt angegangen werden. Anders gesagt: die Mitglieder der Vereinigung, die in einer Einrichtung als Erzieher oder Vorstand oder Geschäftsführer eine konkrete Verantwortung tragen, können sich dementsprechend auf gemeinsame Entscheidungsprozesse einigen.

Vieles gibt es noch zu überdenken. Im Kern aber meine ich, dass diese Wende ansteht. Eine Vereinigung, die sich primär als eine Vertretung von Organisationen versteht, kann sich nicht frei an den Nöten in der allgemeinen Gesellschaft beteiligen. Diese Vereinigung ist, wie man es auch kehrt und wendet, ein Auslaufmodel.

Und vielleicht als Hilfe noch eine rhetorische Frage: Sind an diesem Dilemma nicht schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Gewerkschaften gescheitert? Was erst als Instrument einer dynamischen sozialen Bewegung verstanden wurde, verengte sich zu einer Belangen- und Dienstleistungsorganisation.

07.02.2010

Die Leber der Dichter. Über Bundesländer, Pillen und Sumerer

August 2006, in einem Krankenhaus in Köln. Neben mir steht eine Krankenschwester, die sich als Monika vorstellt. Sie ist groß & schlank, ragt hoch über mich hinaus & lacht. Ihre blonden Haare sind kurz geschnitten, ihre Lippen dünn & ihre Augen grün. Wenn sie spricht, flattern ihre Wörter wie Kolibris um meine Ohren herum.

„Hopla“, sagt sie, „Sie sind Herr Moilen! Toll! Ich mag die Leute aus Holland. Weil sie locker sind. Ich fahre immer gerne nach Zeeland. Dort haben wir Freunde. Nein, keine Holländer. Deutsche! Ich meine: richtige Deutsche! Aus Stuttgart. Haben ein Haus bei Middelburg gekauft. Ich bin aber hier im Rheinland aufgewachsen. Sind die Rheinländer nicht ein bisschen wie die Holländer?“

Während sie meinen Blutdruck misst, verkündigt sie: „Holland müsste ein Bundesland von Deutschland werden. Wäre Klasse! Pfff, stellen Sie sich das mal vor! Holland wäre das stärkste Bundesland. Mächtiger als NRW oder Bayern. Dann hätten wir in Deutschland auch noch eine Monarchie zu allem dazu! Hätten wir alles! Stadtstaaten, Freistaaten, Saarland, Flächenländer... Von mir aus könnte Beatrix Königin der Republik werden! Das wäre ja was!“

Und als sie mir die Tabletten überreicht: „Die Kardiologen haben Ihnen eine ganze Batterie von Medikamenten verschrieben. Ist aber immer so bei Herzinfarkten. Mal gucken. Natürlich ein Beta-Blocker. Was sonst? Und ein Blutverdünner. Ist ja auch richtig, das Blut soll flüssig bleiben. Und was ist das? Ach ja, für den Blutdruck. Der muss ja niedrig gehalten werden, sonst platzen die Venen. Und das hier soll die Leber entmutigen, Cholesterin zu produzieren. Das kriegen Sie aber erst heute Abend. Die Leber arbeitet ja in der Nachtschicht...“ Und sie wirbelt weg.

Ihre Worte bleiben aber im Raum. Die Leber arbeitet also in der Nacht... Ich denke: Von meinem Herz weiß ich nur wenig, von der Leber fast nichts. Ich wüsste nicht einmal, wo sie sich genau in meinem Körper befindet – irgendwo rechts unten? Dass sie aber nachts arbeitet, so etwa drei Uhr, das hatte ich schon mal gehört. Und auch meine ich mich zu erinnern, dass sie vor allem damit beschäftigt ist, die Gifte aus dem Blut herauszufiltern.

Dass sie Cholesterin produziert, wusste ich nicht. Ich hätte eher gemeint, dass Cholesterin durch Fleisch & Eier, was wir alles so essen, in unseren Körper gerät. Meine weiteren Erkenntnisse besagen, dass Cholesterin aus irgendeinem Grund eine Bedrohung für das Herz ist: zu viel Cholesterin führt zu Herzinfarkten & deswegen sollte man wenig Fleisch essen. Was aber Cholesterin genau ist - ich habe keine Ahnung.

Dann fallen mir auf einmal kuriose Informationen ein, die offenbar irgendwo in mir gespeichert waren & sich jetzt zu Wort melden. Für die alten Sumerer, das Volk von Gilgamesch & Enkidu & Inanna, war die Leber das wichtigste Organ & nicht das Herz, wie das von der ägyptischen Zeit an bis tief in die europäische Kultur der Fall war. Die Sumerer sahen die Leber als Sitz der Seele an, als Heimat der starken Gefühle, wie Wollust, Neid & Zorn.

Ich wusste schon, dass es zwei Herzen gibt: das Herz der Ärzte & das Herz der Dichter. Und öfters habe ich mich gefragt: Wie hängen die beiden miteinander zusammen? Was hat das Herz von Goethe & Shelley & Rilke mit dem Herz als menschliches Organ zu tun?

Es gibt aber offenbar auch eine Leber der Dichter. Und ich denke: Irgendwann in der Neuzeit hat das Gehirn die Führung übernommen. Die historische Reihenfolge ist schon interessant: Erst die Leber, dann das Herz, jetzt das Gehirn...

Mit Dank an Sophie Pannitschka