28.03.2010

Ungreifbare Flüssigkeiten. Ein neues Lernen in einer Kultur des Herzens

Die Menschheit betritt Neuland. Und das Betreten von Neuland fragt um eine neue Art des Lernens und Erkennens. Auf hunderterlei Arten und Weisen ist das neue Lernen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts von Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern beschrieben worden. Spontan zu erwähnen sind an dieser Stelle, das „dialogische Denken“ von Jürgen Habermas, das „dialogische Prinzip“ von Martin Buber, die „soziale Plastik“ von Joseph Beuys, das „Diskurs-Denken“ von Michel Foucault und die „Dekonstruktion“ von Jacques Derrida. Hinter all diesen abenteuerlichen Sprachschöpfungen stecken Ahnungen, Sehnsüchte und Vorsätze.

Die Ahnung besagt, dass die Wirklichkeit nur scheinbar mit gegenständlichen und funktionalen Begriffen zu greifen ist. Die physische „Greifbarkeit“ der Welt scheint nicht mehr eindeutig „vorhanden“ zu sein und eine neue Art des Begreifens, das eher auf einem aktiven Mitmachen beruht, wird erahnt. Extrem einseitig wird dieses Ahnen im Konstruktivismus umgesetzt: was wir Welt nennen, ist nicht gegeben, sondern wird von Menschen ständig neu konstruiert.

Die Sehnsucht bedeutet beinhaltet ein Verlangen nach Ausfahrt, Lichtung, Erweiterung, Vertiefung, Erhöhung, Befreiung – sie hat hundert Namen. An der Tatsache, dass Rudolf Steiner an dieser Stelle die merkwürdige Andeutung ätherische Welt“ benutzt, übrigens neben weiteren Umschreibungen, brauchen wir uns nicht zu stören. Er war ja am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert in seinem Diskurs nun einmal auf theosophische Begriffe orientiert. Die Wirklichkeit, nach der wir uns sehnen, lässt sich sprachlich nicht fixieren.

Der Vorsatz bezieht sich auf eine humane Beteiligung. Egal was gedacht und gemacht wird, die Quellen liegen nicht länger in Ideologien, Systemen, Theorien, Konzepten und Weltanschauungen, sondern in den Menschen selber. Entscheidend ist, was sich in meiner frei-zu-werdenden Beziehung zu mir, in meiner frei-zu-werdenden Beziehung zu dir, in dem Ringen um freie Beziehungen-zwischen-uns als fruchtbar, notwendig und bedeutungsvoll erscheint. Der Vorsatz ist ein neues Lernen, dass sich unterwegs vollzieht und nicht vorprogrammiert ist. Die Inhalte des Lernens haben nie einen abstrakten Status, sind nie losgelöst von Raum und Zeit, treten in konkreten Umständen auf, werden wachgerufen und zelebriert im direkten Antlitz der Erscheinungen.

Eine Kultur des Herzens ist zu verstehen als ein unüberschaubares Flechtwerk von Menschen, die gemeinsam versuchen, diesen Weg zu gehen. Sie ist gleichzeitig Quelle, Bedingung und Ziel – Ursache und Wirkung. Die Substanz einer Kultur des Herzens liegt in der ungreifbaren Flüssigkeit zwischen mir und dir, zwischen uns, letztendlich ist sie als eine machtvolle Kraft zu verstehen. Wenn zwei Menschen in Freundschaft etwas mit einander gestalten wollen, im privaten oder im öffentlichen Bereich, öffnet sich ein Feld, wo Macht in Freiheit neu geordnet werden kann.

Ein guter Freund meinte, dass man über eine Kultur des Herzens nicht schreiben könne, gerade weil sie nicht überschaubar sei. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich glaube, dass die Kultur des Herzens tausend Texte braucht, geschrieben von mir und von dir, von ihr und von ihm, um gerade die Vielfalt erlebbar zu machen. Wenn ich versuche, mein Verständnis der Sache auf die sprachliche Ebene zu bringen, wird sofort deutlich: es gibt noch viel mehr Fenster. Sachen nicht fixieren zu wollen, heißt nicht, dass man schweigen muss.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

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21.03.2010

Ein Dialog. Über die holländische und die deutsche Sprache

Beste Ruthild Soltau, we hebben afgesproken dat we samen op mijn weblog een kleine tweetalige dialoog gaan voeren over de verschillen tussen het Nederlands en het Duits. We doen dit omdat we al enige tijd steeds weer spontaan in gesprek raken over de eigenheden van jouw en mijn moedertaal. Ik begin maar met een vraag. Als jij iemand Nederlands hoort spreken, welke indruk maakt dat op jou? Hartelijk, Jelle

Lieber Jelle! Ich habe eine spontane Sympathie mit der holländischen Sprache! Sie klingt gemütlich, warm. aber auch irgendwie bodenständig, handfest, ja, irgendwie zum Anfassen. Sie ist ganz zu Hause, scheint mir, im Fühlen, in dem, was zwischen den Menschen webt. Und es kommt mir so vor, als ob ich als Fremde gleich ins Wohnzimmer eingeladen werde. Ich kann nicht alles, was ich erlebe erfassen, noch weniger beschreiben, ich würde gern auch noch mehr die Sprache hören... Liebe Grüße, Ruthild

Het valt niet mee een afstand tot je eigen moedertaal te scheppen. Je zwemt in je eigen taal als een vis in het water. Maar iets van je beschrijvingen kan ik wel meevoelen. Het is me wel gebeurd dat ik bij het overstappen op het station van Arnhem voor een kort moment de Nederlandse taal als „vreemd“ ervoer. Wat ik dan beleefde is inderdaad zoiets als een gemakkelijkheid en een ongedwongenheid. Wat me vaak opvalt is, dat het Nederlands veel beelden heeft, zoals: een oog in het zeil houden. Het Duits is meer op begrippen orienteert.

Ja, ich habe auch bemerkt, dass Niederländer sehr auf das Sehen, auf die Wahrnehmung durch die Augen orientiert sind. Man hört an der Sprache fast so was wie Schmecken, eine subtile Ernährung durch die Augen kann bemerkt werden. Auch die Ausdrücke zeigen das, z. B. "lekker weertje vandaag" (schönes Wetter heute). Ich liebe meine Muttersprache, aber ich könnte nicht sagen, dass ich in ihr schwimme. Das Sprechen ist für mich  immer mit einem inneren Hören verbunden. Die deutsche Sprache lebt sehr mit Begriffen, sie öffnet sich der Begrifflichkeit und im Satzbau sind verschiedenste Verknüpfungen, Verbindungen von Begriffen möglich. Aber darin liegt auch eine große Gefahr. Ich habe einige Jahre Germanistik studiert und wissenschaftliche Texte gelesen, viel Literatur über Literatur. Ich habe sehr gerungen mit vielen Texten, nicht mit dem Verständnis, sondern mit dem, was ich dabei erlebte: Wie mit Sprache umgegangen wird. Die Sprache kann für inhaltsleere, komplizierte, abstrakte Geflechte verwendet werden, ein großer Dünkel ist oft damit verbunden und man bekommt den Eindruck : die Kompliziertheit der Begriffskombinationen und der Satzgeflechte sollen die Garantie für Wissenschaftlichkeit sein! Begriffe haben etwas Wesenhaftes und "wo keine Götter walten, walten Gespenster". Die Sprache kann so sehr manipulieren! Das ist ja gerade in Deutschland in so schlimmer Weise geschehen. In die Sprache können Dämonen einziehen. Wir Deutschen haben auch wie die Niederländer viele Bilder in der Sprache, in sprachlichen Wendungen, in der Dichtung, in Märchen... Ich habe das Gefühl, dass es der deutschen Sprache gut tut, wenn Niederländer deutsch sprechen.

Ik ervaar de Duitse taal als „architectonisch“. Ik bedoel: woorden en zinnen en teksten lijken een beetje op bouwsels die een inhoud omsluiten. Als je aanklopt, doen de woorden hun deuren open en geven hun inhoud prijs. Ook ken ik de merkwaardige ervaring, iets wat ik in het Nederlands heb geschreven, in Duitse vertaling te lezen. Het klinkt dan veel serieuzer.

Die Charakterisierung "architektonisch" finde ich für die Schriftsprache stimmig, aber diese Charakterisierung sagt ja noch nichts über die Qualität der Architektur aus. Es gibt architektonische Kunstwerke und phantasielose, riesige Einheitsbauten, die lieblos hingeklotzt werden und die freie Sicht versperren. Es gibt auch viel "Pfusch am Bau" der sprachlichen und gedanklichen Gebäude, die der Wirklichkeit nicht standhalten. Wenn die "Baufehler" nicht erkannt werden, kann damit sehr viel Schlimmes in sozialen und politischen Zusammenhängen angerichtet werden. Du findest die deutsche Sprache ernst? Ja, ich empfinde so etwas wie einen heiligen Ernst, die Sprache ist eine Gabe hoher geistiger Wesen  - "Im Urbeginne war das Wort..." Und als Kinderhausmutter empfinde ich eine große Verantwortung beim Sprechen. Ich bemühe mich für die Kinder ein Vorbild zu sein, so wahrhaftig zu sprechen, dass sie ihre Sprachfähigkeit an mir bilden können. Aber in der deutschen Sprache lebt nicht nur Ernst, sondern auch ganz viel Humor. Kinder brauchen für ihre seelische Gesundheit die Freude, die Lust am Sprechen, den Humor genauso nötig wie den Ernst. Eine humorlose Sprache wird bitter.

Ik sluit met Gerrit Achterberg af, een zeer hollandse dichter. „Woorden, ontwaak, ik ben uw naam,/ ik ben uw enige bestaan./ Ik zie mij ongeboren aan.“

14.03.2010

Winterhoffs Frustrationen. Und eine Replik von Henning Köhler

Machen wir unsere Kinder zu Tyrannen? Ja, meint Michael Winterhoff. In seinen beiden Büchern "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" und "Tyrannen müssen nicht sein" haut der Kinderpsychiater bundesweit auf den Tisch. „Von etwa 25 Kindern in einer Grundschulklasse“, so meint er, „sind heute noch zwei bis vier komplett unauffällig, alle anderen zeigen [...] kombinierte Störungsbilder“. Der Weg aus der Hölle ist Winterhoff allerdings klar. Die dringende Aufgabe der Eltern & Pädagogen besteht aus „Führung durch stetiges Training“ & „Spiegelung bei Fehlverhalten“.

Winterhoff meint, dass wir unsere Kinder zu viel lieben. Wir sind zu soft. „Kinder werden geliebt, das scheint außer Frage zu stehen“, merkt er an. Alleine dieser merkwürdige Nachsatz „das scheint außer Frage zu stehen“ macht deutlich, wie glitschig Winterhoff argumentiert. Müssen wir aufhören unsere Kinder zu lieben? Müssen wir unsere Kinder auch ein bisschen hassen, oder vielleicht eben mehr als nur ein bisschen, damit sie keine Tyrannen werden? Was meint er eigentlich?

Er schreibt, dass die Kinder leider „einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert“ genießen – was natürlich barer Nonsens ist. Kinder werden laut Winterhoff eben als „Heilsbringer“ verehrt. In Wahrheit aber, so malt er uns aus, sind Kinder schlecht, genauso wie Calvin es gesagt hat: die Natur des Menschen ist von Geburt an amoralisch & nicht sozial. Auch wenn der protestantische Gott nicht erwähnt wird, er wird von Winterhoff adäquat vertreten.

Der Hammer ist aber, dass Winterhoff den Eltern & Pädagogen zwar „Zuwendung etwa in Form von altersgemäßem Körperkontakt beim Kuscheln“ oder „Über-den-Kopf-streichen“ billigt, aber nur um „eine gesunde kognitive Entwicklung [...] zum funktionstüchtigen Erwachsenen“ zu fördern. Anders gesagt: man darf schon ein kleines bisschen nett sein, weil dadurch die Kinder schlauer werden.

Auf der Website des Janusz Korczak Instituts hat Henning Köhler eine Replik veröffentlicht, die man lesen soll. Unter dem Titel „Dressurpädagogik? Nein danke!“ zerfranst er punktgenau die Argumentationen von Westerhoff. Noch ganz abgesehen davon, dass es ein Genuss ist den Text zu lesen – Köhler kann so richtig saftig polemisieren – kriegt man als Leser unmittelbar mit, worum es eigentlich geht.

Laut Winterhoff liegt ein Grundfehler darin, dass „schon Säuglingen eine eigene Persönlichkeit“ zugeschrieben wird. Und das kann natürlich nicht wahr sein. Ihm ist als Psychiater klar – und alle Eltern & Pädagogen & Erzieher müssten das unbedingt verstehen – dass „die Persönlichkeitsentwicklung im engeren Sinne“ erst im Alter „von etwa acht oder neun Jahren“ einsetzt. Das heißt: bis zum siebten Lebensjahr gibt es so etwas wie einen ernstzunehmenden Menschen nicht.

Henning Köhler sagt dazu unter anderem: „Wenn mich ein Säugling anblickt... wer oder was blickt mich an? [...] Überlasse ich mich der Magie dieses Ereignisses, stellt sich ein Evidenzerlebnis ein, für das es nur eine angemessene Formulierung gibt: Ecce homo! Siehe, ein Mensch! Und das heißt: eine Individualität. Eine Persönlichkeit im Status nascendi. Wer das nicht wahrzunehmen vermag, sollte die Finger von Kindern lassen“.

Fast am Ende seiner Replik macht Henning Köhler eine Bemerkung, die eine „Hoppla-Wirkung“ hat, ich meine: man kommt nicht so leicht darauf, aber wenn man den Gedanken erst einmal begriffen hat, dann wird die Sache komplett transparent. Er schreibt: „Mit dem selben Recht, mit dem man einem Kleinkind die Persönlichkeit abspricht, kann man sie auch einem schlafenden Menschen absprechen“. Für Winterhoff ist dieser Gedanke wahrscheinlich zu originell.

Und darin liegt das Hauptproblem bei Winterhoff: er denkt nicht, nicht einmal nicht-originell. Er merkt nicht, dass er sich ständig in Widersprüchen verliert. Das macht ihm auch nichts, weil er eigentlich nur ein Ding erreichen will, nämlich dass seine Ärgernisse als Psychiater einen Ausweg finden, genau so, wie „seine“ Kinder und Jugendlichen „leider“ manchmal ausrasten müssen. Winterhoff möchte nicht gerne an sich selber zweifeln müssen. Was ihm fehlt ist „ständiges Training“ & „Spiegelung bei Fehlverhalten“.

Ich danke Henning Köhler an dieser Stelle für sein Bemühen, vor allem auch, weil die Bücher von Winterhoff offensichtlich auch in Waldorfkreisen hier & da geschätzt werden. Ja, wie das sein kann, ist noch ein Thema für sich... Ich empfehle meinen Lesern den würzigen & ausführlichen & aufschlussreichen Text, den man finden kann unter: http://www.janusz-korczak-institut.de unter „Aktuelles“. Ich mache darauf aufmerksam, dass man auf der Website herzlich dazu eingeladen wird, den Text zu unterschreiben. Mit lieben Grüßen aus Köln, wo es bald Frühling wird.

07.03.2010

Eine Auflistung. Über Freunde, Bekannte, Kollegen, Geliebte und Feinde

Liebe Leserinnen und liebe Leser, wenn man versucht, die Freundschaft als eine spezifische Beziehungsart zu verstehen, tauchen sofort andere Wörter im Umkreis auf, mit denen man sich beschäftigen muss. Ich schreibe „Wörter“ und nicht „Begriffe“, weil es ja erst einmal die Worte sind, die erscheinen. Die Frage, was die Wörter genau bedeuten, dass heißt, auf welche Begriffe sie sich beziehen, kommt erst an zweiter Stelle.

Neben Freunden gibt es in der deutschen Sprache Kollegen, Feinde, Geliebte, Partner, Kumpel, Genossen, Bekannte, Kameraden, Lebensgefährten... Diese Auflistung bezieht sich auf menschliche Beziehungen, die nicht biologisch bestimmt werden. Ich bin mir sicher, dass sie nicht vollständig ist. Weil ich für ein Buch, das ich vorhabe zu schreiben, eine mehr oder weniger vollständige Liste brauche, würde ich mich über Ergänzungen sehr freuen.

Meine vorläufige Liste ist nicht geordnet. Wenn ich versuche, eine Ordnung in die Willkür zu bringen, ohne auf der rein sprachlichen Ebene zu bleiben, komme ich nicht darum hin, auf die Bedeutung der Wörter zu schauen. Eine sinnvolle Ordnung entsteht nur dann, wenn die entsprechenden Begriffe beschrieben werden. Was sich dabei aber zeigt, ist die Tatsache, dass die Begriffe sich nicht so einfach greifen lassen.

Eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge der genannten Worte wäre diese: Bekannte, Kollegen, Partner (als Geschäftspartner), Genossen (in einer politischen Partei oder einem ideellen Verein), Kumpel, Freunde, Feinde, Lebensgefährten, nochmals Partner (als Lebenspartner) und Geliebte. Dieser Auflistung liegen zwei Begriffe zu Grunde, die mit den Wörtern Distanz und Nähe angedeutet werden können. In dieser Auflistung steigert sich die Nähe zwischen den entsprechenden Personen.

Zwischen mir und meinen Bekannten herrscht eine spontane oder bewusst gehandhabte Distanz, die es zwischen mir und meiner Geliebten nicht gibt. Die Steigerung der Nähe hängt mit einer Intensivierung des Vertrauens zusammen. Schon zwischen Kumpeln gibt es eine Nähe, die zwar beschränkt und von äußeren Umständen bestimmt wird, allerdings eine Herzlichkeit beinhaltet, die es bei Kollegen oder Bekannten so nicht gibt. Bei Freunden liegt eine Vertiefung des Vertrauens vor, die gewiss nicht immer unbeschränkt, aber nicht mehr ausschließlich von Äußerlichkeiten abhängig ist.

Wenn man weiter auf die Liste schaut, fallen sofort ein paar merkwürdige Gegebenheiten auf, die eher Unordnung suggerieren. Bemerkenswert ist, dass einige Kategorien einander ausschließen, andere jedoch miteinander verschmelzen können. Man kann zum Beispiel in einer Beziehung gleichzeitig Kollege und Freund sein. Was aber gar nicht geht, ist, gleichzeitig ein Bekannter und ein Freund zu sein: Die beiden Wörter dienen gerade dazu, einander abzugrenzen. Ist man einmal befreundet, spricht man von einem Freund und nicht mehr von einem Bekannten.

Genauso bemerkenswert ist: Einige Kategorien können sich in andere Kategorien verwandeln. Aus einem Bekannten kann ein Kumpel, ein Genosse, ein Freund, ein Feind oder ein Geliebter werden. An dieser Stelle ist die oben erwähnte Steigerung wirksam: mit dem Vertrauen (oder Misstrauen zwischen Feinden) steigt die Innigkeit der Beziehung. In der umgekehrten Richtung gibt es aber nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Unmöglichkeiten.

Aus einem Geliebten kann ein Freund, ein Feind, vielleicht auch ein Kumpel oder ein Genosse, aber niemals ein Bekannter werden. Hat man einmal aufgehört, einfach nur ein Bekannter zu sein, kann man in diesen Zustand nicht mehr zurückkehren. Für alle „Rückschritte“ gilt allerdings, dass sie problematisch sind. Um zum Beispiel von einem Geliebten zu einem Freund zu werden, muss meistens richtig etwas geleistet werden. Es ist, als ob man gegen einen Strom arbeiten muss.

Die Stelle der/des Geliebten in der Liste ruft überhaupt schwierige Fragen auf. Einerseits scheint eine Liebesbeziehung die Krönung aller Beziehungen zu sein, weil sie alles umfassen kann – lediglich die Kategorie der Bekanntheit schließt sie aus. Anderseits aber wird die Liebesbeziehung oft als eine „ausschließliche“ Beziehung verstanden, dass heißt: jemand hat (im Moment) nur zu einer Person eine Liebesbeziehung. Mit der Liebe ist offenbar ein Paradox verbunden: sie kann alles umfassen und gleichzeitig alles ausschließen.

In diesem Zusammenhang interessiert mich die Frage eigentlich nicht, ob man gleichzeitig mehrere Geliebte haben kann oder darf oder eben soll. Auch wenn jemand fünf Geliebte hat, was mir schon viel scheint, bleibt die Tatsache, dass die Anzahl beschränkt ist. Ein Mensch kann tausend Bekannte, hundert Kollegen, siebzig Genossen, zwanzig Kumpel, zehn Freunde und neun Feinde haben – gleichzeitig mehr als eine Handvoll Geliebte verkraftet niemand.

Mit der qualitativen Steigerung der Nähe, ist offensichtlich eine quantitative Abnahme verbunden, was vor allem deutlich wird, wenn wir auf die Stellen an der Spitze meiner Auflistung schauen. In seinem Buch „Politik der Freundschaft“ stellt Jacques Derrida in Anlehnung an Aristoteles die aufschlussreiche Frage: wie viele Freunde kann ich eigentlich haben? Zu wie vielen Freundschaften bin ich fähig? Diese Frage stellt sich nur bei Freunden und Geliebten.

Noch vieles mehr wäre über die Auflistung menschlicher Bezüge zu sagen. Ich werde mich in den nächsten Wochen mit weiteren Aspekten beschäftigen und würde mich, wie gesagt, über Ergänzungen, andere Sichtweisen und sprachlich-begriffliche Verfeinerungen sehr freuen. Seid herzlich gegrüßt, in Freundschaft, Feindschaft, Kameradschaft, Bekanntschaft oder Anonymität. Jelle van der Meulen

Mit Dank an Sophie Pannitschka

01.03.2010

Alle großen Worte brauchen Respekt. Über das Wort „ Anthroposophie“

Wer aufhört sich die Frage zu stellen, wie bestimmte Gedanken & Gefühle & Intentionen & Ereignisse hier & jetzt sprachlich auszudrücken sind, steht im Abseits. Verbindungen zwischen Bedeutungen & Worten sind nicht fixiert. Immer wieder werden neue & frische & überraschende Sprachschöpfungen gebraucht & gemacht. Sie wirken wie Lichtungen ins Offene.

Sprache ist wie ein Kreuz, weil sie zwei Spannungsfelder in einem Punkt zusammenzieht. Ein stimmiges Wort, gesprochen oder geschrieben, erscheint im Nu wie eine Rose, in sich selber versunken, sich selber übersteigend. Die erste Spannung ist vertikal ausgerichtet: sie bezieht sich auf das Wechselspiel zwischen Lauten & Bedeutungen. Wenn der Satz „Sein Herz war ein Gefäß“ (Pablo Neruda) auf einmal klingt, lässt sich ein Gedanke oder eine Vorstellung über eine Sequenz von vertrauten Lauten intuitiv ergreifen.

Das zweite Wirkungsfeld ist horizontal. In diesem Feld bewegen sich die Worte zwischen den Menschen hin & her. Sprache ist immer auch eine Bewegung von mir zu dir, gleichzeitig von dir zu mir. Ich kann nicht mit dir reden, ohne mich in deine Sprache zu versetzen. Und erst wenn es gelingt den Punkt zu finden, an dem die Spannung zwischen oben & unten mit der zwischen mir & dir verschmilzt, findet eine Kommunion statt. Ob ein Wort richtig oder stimmig ist, hängt davon ab, ob die vier Perspektiven einen gemeinsamen Glühpunkt finden.

Kommunikation ist ein offenes Geschehen in Raum & Zeit. Richtige Aussagen erscheinen immer irgendwo & irgendwann. Behauptungen, die sich von Raum & Zeit gelöst haben, sind gleichzeitig leer und kraftlos & übermächtig und unantastbar geworden. Wenn Sigmar Gabriel in seinen Reden immer wieder „liebe Genossinnen & Genossen“ sagt, zeigt er, dass die Beziehung zwischen ihm als Vorsitzendem & den Mitgliedern seiner Partei durch die Geschichte fixiert ist. Auf der sozialen Ebene ist seine Aussage leer, auf der politischen gerade machtvoll.

Das Offene der Kommunikation hängt mit der Tatsache zusammen, dass Lebensvorgänge sich ständig verwandeln. Es wird eine Zeit geben, in der das Wort „cool“ auf einmal völlig daneben ist, weil sich die Perspektiven verändert haben. Und ist es nicht schon heute so, dass nicht alle Menschen sich dieses Wort bedienen können, einfach weil sie irgendwie & irgendwo im Lichte der heiligen Lässigkeit schon daneben sind?

Ein Wort, mit dem ich schon dreißig Jahre ringe, heißt „Anthroposophie“. Auch dieses Wort wird ständig hin & her manipuliert zwischen Nichts & Allem. Als kultureller Begriff hat das Wort jegliche Bedeutung verloren, weil es auf ein festgelegtes System von bestimmten Normen & Werten reduziert worden ist - geschätzt von einer kleinen Gruppe von Menschen. Für die Öffentlichkeit hat das Wort seine positive Wirkung verloren.

In anthroposophischen Kreisen & Einrichtungen kann das Wort allerdings eine sehr große Macht haben. Es bedeutet dort oft so viel wie: die unerreichbare geistige Wahrheit, die sich über Raum & Zeit befindet & nur von ganz wenigen Menschen verstanden werden kann. Man muss ein bestimmtes Alter haben, ganz viele Bücher gelesen (und bitte: geschrieben) haben & außerdem noch gut reden können. Wenn jemand an diesen Kriterien scheitert, ist er nicht im Stande, Anthroposophie zu vertreten.

Obwohl das Wort Anthroposophie sich in einer schwierigen Lage befindet, werde ich an dieser Stelle nicht vorschlagen, es einfach zu streichen. Wenn es um sprachliche Gepflogenheiten geht, funktionieren solche Entscheidungen nicht, weil Sprache ein Eigenleben führt. Sich bewusst auf bestimmte Ausdrücke festzulegen, gelingt nur im akademischen & rechtlichen Rahmen – was die Sprache dementsprechend trocken & abstrakt macht. Nein, wir müssen mit dem Wort Anthroposophie weiter leben.

Aber wie? Ich würde sagen: mit Liebe. Das bedeutet meines Erachtens, dass die zwei genannten polaren Bedeutungen, die zwischen Allem & Nichts, vermieden werden. Sie verletzen nicht nur die sozialen Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch das Wort selbst. Ein Wort liebevoll zu benutzen, bedeutet etwa: auf den Anspruch zu verzichten, seine Bedeutung ganz zu durchschauen & festzulegen.

Alle „großen“ Begriffe & alle „großen“ Worte, die sich auf diese Begriffe beziehen, verdienen Respekt. Worte wie Wahrheit & Freiheit & Liebe sind in der Kommunion zwischen oben & unten und in der Kommunikation zwischen mir & dir nur dann fruchtbar wirksam, wenn sie als eine offene Bestimmung verstanden werden. Sobald man meint, die Bedeutung des Wortes ganz & komplett zu kennen, gerät man in eine Isolation.

Wer könnte schon definitiv in Worte fassen, was Liebe bedeutet? Die Anthroposophie ist vor allem eine Sache des Herzens. Wir brauchen zwar unsere Köpfe, entscheidend ist aber das, was Rudolf Steiner folgendermaßen versucht hat zu beschreiben: „Erleuchte/ unsere Häupter,/ Dass gut werde,/ was wir aus Herzen/ Gründen,/ was wir aus Häuptern/ Zielvoll führen wollen.“ Die Quelle liegt also im Herzen, und dessen Sprache nennt man Poesie.