30.05.2010

Kollaps und Tanzkunst. Die Finanzkrise als Schwellenübergang

Jetzt haben die Amerikaner sich zu Wort gemeldet und mitgeteilt, dass sie es gar nicht gut finden, dass Länder wie Deutschland vorhaben, in den nächsten Jahren einträglich zu sparen. Der Weg aus der dreifachen Krise (Wirtschaft, Finanzen, Währung) liege, laut den Amerikanern, gar nicht darin, dass wir damit aufhören, üppig auf Pump zu leben, sondern ganz im Gegenteil: der Schritt nach vorne liege eher darin, dass wir uns große Investitionen vornehmen würden.

Dieser Gedanke ist ziemlich einfach. Jeder Unternehmer weiß, dass neue Einnahmen erst dann entstehen, wenn neue Produkte entwickelt und damit neue Kunden erreicht werden. Und das kostet Geld. Der Gedanke des Sparens ist allerdings genauso leicht zu verstehen: wenn man mehr Geld ausgibt, als man verdient, entstehen Schulden, die am Ende nicht mehr zu schultern sind.

Sparen oder investieren? Obwohl ich in Sachen Wirtschaft und Finanzen ein Laie bin, meine ich jedoch sagen zu können, dass an dieser Stelle nicht von einem Entweder-Oder die Rede sein kann. Sparen: ja! Investieren: ja! Die Frage ist nur: wo sollen wir sparen und wo sollen wir investieren? In Deutschland und in den anderen europäischen Ländern sind diese Fragen noch nicht einmal halbwegs geklärt.

Politiker haben sich mit der Tatsache abzufinden, dass große Maßnahmen, egal ob sie auf Sparen oder Investieren ausgerichtet sind, von den Wählern verstanden und getragen werden müssen. Maßnahmen, die von den Bürgern nicht angenommen werden, führen erstens dazu, dass die Politiker bei der nächsten Wahl abgewählt werden - und das wollen sie nicht - und zweitens gibt es die reale Gefahr, dass in der Bevölkerung ein heftiger Unmut entsteht. Gesellschaftliches Chaos gilt es aus dem Blickwinkel der Politiker unter allen Umständen zu vermeiden.

Ich habe den Eindruck, dass die Politiker vor allem damit beschäftigt sind, dem Chaos vorzubeugen. Alles darf sein, nur kein Umschwung. Der Gedanke, dass die wirtschaftlichen und finanziellen „Ereignisse“ der letzten Jahre im Grunde genommen laut um neue Blickwinkel und Perspektiven auf das gesellschaftliche Leben fragen, soll nicht gedacht werden. Alles muss bleiben, so wie es ist, weil die Angst vor Neuem zu groß ist. Anders gesagt: die Politiker trauen den Bürgern diese Krise nicht zu. Sie bemühen sich den Eindruck zu erwecken, dass die Krise nicht auch eine persönlich-biographische Angelegenheit ist, die jede Person betrifft.

An dieser Stelle regiert uns noch immer das Denken von Karl Marx. Nicht die persönliche Haltung der Menschen oder die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben und die Welt bestimmen das wirtschaftliche und soziale Leben, sondern die großen, entfremdeten und funktionalen Strukturen, die als Ausdruck äußerer Machtverhältnisse verstanden werden. Die Sichtweise von Michel Foucault - als Beispiel – nämlich, dass Macht eine veränderliche Angelegenheit zwischen konkreten Menschen ist, kann in politischen Zusammenhängen noch immer nicht fruchtbar gedacht und angenommen werden.

Das Ergebnis: die Bürger lehnen sich bequem zurück, stellen sich nicht die Frage: was hat das alles eigentlich mit mir zu tun? und schauen abwartend auf die „großen“ Taten der Politiker. Dieser tragische Umstand scheint mir die Quelle der eigentlichen Krise zu sein. Obwohl die Haltung der Politiker verständlich ist – Chaos macht keinen Spaß! – führt sie dazu, dass die Krise nicht wirklich auf der Ebene ankommt, auf die sie gehört: in das konkrete Leben von allen konkreten Menschen.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wo man sparen und wo man investieren sollte, braucht man eine Idee davon, wo man hin will. Die Lösung des Problems liegt nicht in einem schlauen Denken über „wie-die-große-fremde-Welt-nun-einmal-funktioniert“, sondern in einer Vorstellung davon, wohin wir wollen. Auch abstrakte Begriffe wie „Bildung“ und „alternative Energien“ (in die wir doch investieren zu müssen?) bringen uns an dieser Stelle nicht viel weiter. Wichtiger sind diesbezüglich zumindest zwei Fragen: Wer soll wozu „gebildet“ werden? Und: Wozu brauchen wir „Energie?“

Ich wünsche mir ein kleines bisschen mehr Chaos. Und ich glaube, dass dieser Zustand auch kommen wird. Von allen Menschen – nicht nur von Politikern – wird eine wache Aufmerksamkeit verlangt, die auch dann gehandhabt werden kann, wenn die vertrauten Koordinaten im sozialen Leben auf einmal nicht mehr tragen. Die Krise kann uns, wenn wir uns das zutrauen, über eine Schwelle bringen, die Neuland verspricht. Wir müssen dafür aber nicht schon heute wissen wollen, was die Gegebenheiten dieser neuen Welt ausmachen.

Ich würde sagen: Bei all dem kräftig sparen, was darauf hinzielt, die alten Koordinaten aufrecht zu erhalten; und genauso kräftig in Fähigkeiten und Instrumente investieren, die uns beim Schwellenübergang helfen, in den richtigen Momenten die stimmigen Entscheidungen zu treffen. Und an dieser Stelle gilt: Wir dürfen in eine Tanzkunst investieren.

23.05.2010

Amares in Köln. Ein Ort für Transporter, Künstler, Mathematiker, Feuermacher und Spieler

Amares ist ein Ort für Kinder. Räumlich gesprochen besteht er aus einem ehemaligen Betriebshof der Stadt Köln im Kölner Stadtwald. Der Hof ist von einer Mauer umgeben, an der Seite stehen eine Reihe alter Garagen, die mit offenen Augen nach innen auf den Hof schauen, und ein kleines, gemütliches Gebäude, das einen Kindergarten mit zwei Gruppen von Kindern beherbergt. Mitten im Hof steht eine Linde, die sich bemerkbar über die insgesamt dreißig Kinder im Alter von etwa zwei bis fünf Jahren freut.

Amares ist Spanisch und bedeutet: Arten des Liebhabens. Als Amares vor zweieinhalb Jahren gegründet wurde, gab es drei pädagogische Leitsätze: Räume für Kinder schaffen, Zeit geben & als Erwachsene einfach aufmerksam dabei sein. Mittlerweile gibt es zirka zehn MitarbeiterInnen und eine ganze Truppe von Eltern, die täglich mit den Kindern im Raum und in der Zeit unterwegs sind.

Amares versteht sich als eine Einrichtung, die sich zwischen Natur und Kultur hin und her bewegt. Die Natur ist durch den Stadtwald reichlich vorhanden, die Kultur wird von den MitarbeiterInnen und Eltern gebracht – und von den Kindern, die bauen & planen & malen & untersuchen & Fragen stellen & immer wieder spielend unglaubliche Ereignisse erzeugen. Jeden Tag ist bei Amares so richtig etwas los.

Weil ich zum Gründungsvorstand gehöre, kriege ich immer wieder die wunderbaren Geschichten mit. Sie belegen, dass die Leitsätze sich bewahrheiten. Wenn Erwachsene es schaffen, mit ihrem „sanften Willen“ (Georg Kühlewind) unbefangen und wach bei den Kindern zu sein und mitzumachen, kreieren die Kinder selber jeden Tag wieder genau die Welt, die sie gerne haben. In Amares entfalten sich geniale Transporter, Handwerker, Konstruktionsarbeiter, Mathematiker, Künstler, Pfleger, Naturwissenschaftler, Sozialarbeiter...

Und auch die Erwachsenen können sein, was sie (nicht länger heimlich) auch noch sein wollen: Malerinnen, Photographinnen, Bauarbeiter, Schmiede, Feuermacher, Köchinnen, Spielerinnen... So etwas wie „reine“ ErzieherInnen oder PädagogInnen gibt es bei Amares nicht. Und vielleicht liegt dort das Herz von Amares: die sogenannte „Pädagogik“ ist ins Leben eingebettet worden. Man geht nicht morgens früh zu Amares um zu betreuen oder betreut zu werden, sondern um immer wieder neu ins Leben einzusteigen.

Das heißt aber nicht, dass es bei Amares nur Spaß und Freunde gibt, sondern auch Sorgen und Tränen. Ein Thema, dass immer wieder in den Gesprächen zwischen MitarbeiterInnen und Eltern auftaucht, wäre vielleicht noch am besten mit den Begriffen Dienstleitung und Gemeinschaft anzudeuten. Manchmal wird Amares als eine Einrichtung verstanden, die im Auftrag der Öffentlichkeit einer bestimmten Aufgabe nachgeht, nämlich zwischen acht und vier Uhr für kleine Kinder zu sorgen.

Manchmal aber wird Amares eher als eine Gemeinschaft verstanden – diesbezüglich wird wohl von einer „erweiterten WG“ gesprochen, oder eben von „einer Familie“. Vor allem am Nachmittag, wenn die Kinder abgeholt werden, bleiben manche Väter und Mütter noch eine Weile da, sitzen auf den Bänken und Baumstämmen, reden miteinander über dieses und jenes, schauen auf die Kinder, die sich gar nicht von ihren Spielen verabschieden wollen, oder sprechen mit den MitarbeiterInnen über die „pädagogischen“ Sorgen.

Die Präsenz der Eltern ist wichtig für die Kinder. Sie fühlen sich eingebettet in eine Truppe von Erwachsenen, die eine lebendige Beziehung zueinander haben – und auch wenn die Kleinen an den Gesprächen gar nicht beteiligt sind, sondern sich entschlossen den eigenen Vorhaben widmen, spüren sie die wohlwollende Aufmerksamkeit der Erwachsenen. (Und es tut so richtig weh, wenn der eigene Vater oder die eigene Mutter nicht in der Lage ist, noch eine Weile zu bleiben, zum Beispiel weil die Arbeit ruft.)

Für das Team wäre es manchmal einfacher, sich auf die konkrete Dienstleistung zu beschränken und die Eltern nicht nur wegzuschicken, sondern auch grundsätzlich weg zu „denken“. Wenn man über die Dienstleitung hinaus auch eine Gemeinschaft ermöglichen will – und dazu Räume schafft und Zeit gibt und dabei ist – entstehen persönliche Beziehungen zwischen Vätern und Vätern, Müttern und Müttern, Müttern und Vätern, ErzieherInnen und Väter-Müttern, die bekanntlich manchmal auch verwirrend werden. So ist das nun einmal mit menschlichen Beziehungen: sie haben eine Dynamik, die über die Regeln der Dienstleistungen hinaus geht.

Und dadurch entstehen manchmal Spannungen, die vor allem von den MitarbeiterInnen gelöst werden sollen. Sie müssen hinkriegen, dass das Frühstück zum Beispiel zumindest halbwegs pünktlich stattfindet, denn sonst bleibt für die Kinder keine Zeit mehr übrig, um in den Wald zu gehen. An dieser Stelle sind die Eltern und MitarbeiterInnen von Amares manchmal gespalten: einerseits ist das Verlangen nach Gemeinschaft groß, andererseits scheint es manchmal notwendig zu sein, das Leben nach einfachen Regeln zu gestalten.

Für diese Spannung, so meine ich, gibt es keine Lösung. Sich auf reine Dienstleistungen zu beschränken, bedeutet der soziale und pädagogische Tod. Sich allerdings uneingeschränkt auf die tausend Möglichkeiten des Liebhabens einzulassen, bedeutet Chaos. Die Lösung-die-es-nicht-gibt liegt in der Akzeptanz der Spannung als eine sinnvolle Polarität, genauso wie wir Tag und Nacht akzeptieren. Der Weg nach vorne ist ein Tanz.

16.05.2010

Währungskrise und mehr. Stehen wir vor einem Kollaps?

Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Währungskrise... Letztes Wochenende schrieb Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung: „Es steht ernst um Europa, und die Gefahr ist nicht abgewendet“. Gerade Griechenland, in dessen Geschichte die Wurzeln des freien Europas liegen, hat gezeigt, dass das Thema der Überverschuldung der Staaten nicht länger ignoriert werden kann. Und es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann die nächsten Staaten dran sind: Portugal, Spanien, Italien, Irland...

Im Grunde genommen haben aber fast alle Staaten in Europa so viele Schulden, dass sie eigentlich nicht mehr zu tragen sind. Auch Deutschland, mit einer vergleichsweise geringen Verschuldung und einer intakten Volkswirtschaft, ist an eine Grenze gekommen. Die notwendigen Pläne für die Zukunft, vor allem in Bezug auf Bildung, können nicht mehr finanziert werden. Einige Politiker, wie Roland Koch aus Hessen, haben es letzte Woche auch deutlich gesagt.

Um die Europäische Währung zu schützen, sind 750 Milliarden Euro bereitgestellt worden. Es ist überflüssig zu bemerken, dass das viel Geld ist. Ich könnte als Laie nicht erklären, woher das Geld genau kommt und wie es verwendet wird. Klar ist aber, dass es vor allem die wirtschaftlichen Kernstaaten der Europäischen Union sind, wie Deutschland und Frankreich, die für den Betrag gerade stehen. Und die Frage, ob die Staaten das auch leisten können, kann nicht einmal beantwortet werden.

Es betrifft natürlich nicht nur Europa: auch große Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten oder Japan haben einen Schuldenberg, der kaum zu übersehen ist. Das Problem der Verschuldung der Staaten geht weit über Europa hinaus. Und weil auch die sogenannten Schwellenländer, wie Indien und Brasilien, auf die europäische Art und Weise auf Wachstum setzen, das heißt: enorme Schulden aufbauen, muss gesagt werden, dass das Problem die ganze Welt im Griff hat.

Billig ist, ein paar gierige Spekulanten aus New York für das Drama verantwortlich zu machen. Klar, an dieser Stelle soll der Turbo-Kapitalismus gezügelt werden, und das wird zweifellos auch geschehen. Obama ist schon dabei. Das Grundproblem ist aber nicht finanziell-systemisch-rechtlicher Art, sondern eher kultureller Natur: wie stellen wir uns das Leben vor? Welche Erwartungen meinen wir haben zu dürfen? In wie weit ist die Zukunft materiell gesprochen wie eine Quelle für die Gegenwart zu verstehen und auszubeuten?

Stehen wir vor einem Kollaps? Ich kann es als Laie nicht sagen. Merkwürdig ist aber, dass ich in den letzten Monaten öfters gedacht – oder eher „gefühlt“ – habe, dass die Sequenz der Ereignisse mir irgendwie bekannt vorkommt. Finanzkrise, Wirtschaftskrise und Währungskrise scheinen mir Akte in einem Drama zu sein, das ich schon kenne. In gewissem Sinne scheint es mir so zu sein, als ob ich mein ganzes Leben darauf gewartet hätte.

Ich erinnere mich, dass Bernard Lievegoed mir kurz vor seinem Tod einmal sagte: „Du sollst dich auf die sozial-gesellschaftliche Situation vorbereiten, dass das Telefon nicht mehr funktioniert“. Er war damals, vor etwa zwanzig Jahren, davon überzeugt, dass die westliche Kultur um das Jahr 2000 gegen eine Wand fahren würde. Er sagte einen Kollaps voraus, der als eine Steigerung der Wirkung der Gegenmächte zu verstehen sei. (Auch bei Rudolf Steiner ist diese Sichtweise zu finden.)

Lievegoeds Entgegnung bestand aus der Proklamation einer Kultur des Herzens. Er meinte, dass das Tragende in der Gesellschaft zukünftig nicht auf der systemisch-rechtlichen Ebene gefunden werden könne, sondern in demjenigen, was zwischen konkreten Menschen lebt. Staaten werden aufhören wie tragende Institutionen zu sein, die als sichere Einbettung der Biographien funktionieren. In dem Chaos wird die Frage sein: wie kann ich zusammen mit dir mein Leben gestalten?

Wenn ich richtig liege, wird alles noch schlimmer werden. Ich war letzte Woche in Spanien, wo ein guter Bekannter, Antonio, mich lachend fragte: „Wirst du als Einwohner von Deutschland mir finanziell helfen, wenn Spanien den Bach runter geht?“ Die Spanier scheinen schon damit zu rechnen, dass auch sie bald dran sind. Dann meinte er aber ernsthaft: „Es ist natürlich nicht eine Sache des Geldes...“ Wir waren uns einig: Das Kapital, dass wir jetzt einsetzen können, hat eine geistige Natur. Wenn Staaten kein Vertrauen mehr bieten können, verschiebt sich der Schauplatz dorthin, wo die Sachen wesentlich werden: in die Welt der konkreten Beziehungen.

Die Frage ist nicht länger nur: was machen die Politiker, sondern auch: was machen wir, du und ich?

10.05.2010

Bob Dylan und ich. Über einen kuriosen Twist of Fate

Als ich vor etwa fünfzehn Jahren einem meiner Söhne kurz vor einem Konzert von Bob Dylan in Utrecht erzählte, dass ich – ich arbeitete damals als Journalist – den tiefen Wunsch hätte, den großen Sänger aus den Vereinigten Staaten einmal zu interviewen, mir aber sicher wäre, dass es gar keinen Sinn mache, ihn über die offiziellen Wege zu kontaktieren, sagte mein Sohn zu mir: „Jelle, schreibe bitte auf einen kleinen Zettel worüber du mit Bob Dylan reden willst, ich werde deinen Wunsch weiterleiten.“

Zwei Tage meditierte ich und schrieb dann: „Dear Bob Dylan, I am a Dutch journalist and would like to ask you the question: what do you mean by The Queen of Space?“ (Mit der Königin des Raumes ist eine Gestalt gemeint, die in einer seiner Lieder auftaucht.) Und ich fügte meine Telefonnummer in Amsterdam hinzu. Obwohl ich befürchtete, dass er gerade diese Frage dumm finden könnte, konnte ich nicht darum umhin: es war für mich eine richtige Frage! Als wir dann in Utrecht im Konzert waren, wickelte mein Sohn den Zettel mit einem Gummiband um ein Feuerzeug und warf es auf die Bühne. „Jemand wird es finden“, sagte er, „und es vielleicht weitergeben“.

Nein, Bob Dylan hat mich nie angerufen und mein Wunsch ist noch immer nicht erfüllt. Die Aktion meines Sohnes hat aber meine Beziehung zu Bob Dylan grundsätzlich verändert und vertieft, erst einmal deswegen, weil die zwei Tage des Meditierens eine innerliche Nähe zu ihm erzeugten – es war, als ob das Gespräch schon angefangen hätte; und dann aber auch: weil mein Sohn auf diesen wunderbaren Gedanken kam, einfach ein Feuerzeug auf die Bühne zu werfen, entstand auf einmal die Möglichkeit eines Treffens. Ich konnte mir innerlich ausmalen, wie das gehen könnte: jemand würde das Feuerzeug finden, es Bob Dylan geben, er würde meine Frage lesen und denken: jemandem, der seine Hoffnung auf einen kuriosen Twist of Fate setzt, dürfte ich schon eine halbe Stunde meines Lebens schenken – wenn man seine Lieder kennt, weiß man, dass er so denken könnte.

Mein Sohn hat damals eine reale Möglichkeit, wie klein auch immer, arrangiert, weil er mich und Bob Dylan verstand und sich nicht in herkömmlichen Gedankengängen fesseln lies. Er öffnete ein Nadelöhr. Seitdem habe ich einige innerliche Gespräche mit Bob Dylan geführt, vor allem über die Eigenartigkeit, dass er in seinen Liedern manchmal große spirituelle Bilder verwendet, als Person an dieser Stelle aber sehr verschlossen wirkt, so, als ob er etwas fühlen kann, was er nicht in Gedanken repräsentieren und äußern will. Und freilich, da liegt die Verbindung zwischen ihm und mir: manchmal finde ich mich selber in dieser Position.

Ich würde sagen: Bob Dylan ist in meiner Innenwelt ein Gegenüber geworden.

03.05.2010

Zehn muntere Thesen in schwierigen Zeiten. Über die Waldorfkindergärten

Wegen des Themas dieses Blog-Textes bitte ich in dieser Woche noch einmal um Nachsicht, da es vielleicht nicht alle interessiert. Es geht um die Zukunft der Waldorfkindergärten in NRW. Diesmal geht es um ein paar Thesen, die sich auf die Vereinigung der Waldorfkindergärten beziehen. Die Thesen beinhalten „Visionen“, zurzeit ein gefährlicher Begriff – Visionen sollte man besser gar nicht erst haben, weil sie zu „groß“ sind. Besser wäre es, so hört man oft, die Sachen „klein“ und vor allem „konkret“ anzugehen.

Manchmal kommt es mir so vor, dass der Vorwurf „zu groß zu denken“ im Grunde eigentlich bedeutet: man sollte besser überhaupt nicht denken. Meine Thesen beziehen sich auf eine kleine Vereinigung mit überschaubaren Aufgaben. Sie sind deswegen eher als bescheiden und vor allem als sehr konkret zu bezeichnen. Ich freue mich auf Kommentare.

1.Die Vereinigung darf auf ihr geistiges Kapital vertrauen und auf Wachstum setzen. Der anthroposophische Erziehungsimpuls ist nach wie vor zeitgemäß. Die Vereinigung sollte sich in NRW bis 2015 als Ziel setzen: 25 neue Waldorfkindergärten.

2.Um das Ziel zu erreichen, soll auf die Hindernisse geschaut und die Frage gestellt werden: wie kann die Waldorfpädagogik wieder attraktiv werden?

3.Die Vereinigung sollte sich dadurch stärken, dass individuelle Personen für 50 Euro pro Jahr Mitglied werden können. Wie die individuellen Mitglieder sich zu den Vertretern der Einrichtungen verhalten, müsste geklärt werden. Das Ziel für 2015: 1000 individuelle Mitglieder.

4.Die Vereinigung sollte sich in der öffentlichen Gesellschaft stärker als eine Vereinigung für Kindheit definieren.

5.Die Vereinigung sollte sich aktiv auf die Suche nach Verbündeten begeben und derlei Beziehungen durchgehend pflegen.

6.Die Vereinigung sollte über die Waldorfkindergärten hinaus denken und den anthroposophischen Erziehungsimpuls auch für staatliche und andere private Einrichtungen attraktiv machen.

7.Die Vereinigung sollte neben Kindergärten auch andere Einrichtungsformen als „Waldorf“ anerkennen, wie Waldkindergärten, die Arbeit von Tagesmüttern und andere Kleinkindgruppen.

8.Die Vereinigung braucht ein freies Presseorgan, das statutengemäß unabhängig von den Entscheidungsgremien arbeitet und nicht als public relations gedacht wird.

9.Die Vereinigung sollte die Ausbildung und die Fortbildung der Erzieherinnen neu denken. Unterschiede sollten diesbezüglich zwischen Kindergartenleiterinnen und Erzieherinnen gemacht werden, die in den Gruppen arbeiten.

10.Die Vereinigung darf auf der finanziellen Ebene in die Offensive gehen. Mit den Aufgaben steigen auch die Ausgaben. Die Vereinigung sollte nicht nur sparen, sondern auch Geld aufnehmen um in die Zukunft zu investieren.