29.08.2010

Zum Vorlesen. Wie Poli lernt, endlich mal ein Tor zu schießen

Seine Mutter steht in seinem Zimmer und ruft: „Poli, aufstehen! Der Tag hat begonnen!“ Poli will aber nicht aufstehen und tut so, als ob er noch schläft. Er hält seine Augen fest geschlossen. Er hatte gerade einen Traum. Ein Mann hat ihm gezeigt, wie man den Ball am besten ins Tor schießen kann. Und das war ihm im Moment am allerwichtigsten, wie man ein Tor macht. Jetzt aufzustehen, seine Zähne zu putzen, runter zu gehen und ein Brot zu essen, dazu hat Poli gar keine Lust. Seine Mutter lässt aber nicht locker. Sie zieht die warme Decke von seinem Bett und sagt: „Hopla Poli, komm, dein Vater wartet schon!“

Poli hasst es, wenn seine Mutter ihn weckt. Sie macht das jeden Morgen so. Sie will immer Zähne putzen, runter gehen und Brot essen. Und dann mit dem Fahrrad in den Kindergarten fahren. Auch wenn es regnet oder schneit. Und Poli hasst es, wenn er im Regen Fahrrad fahren muss, weil er dann nass wird. Seiner Mutter ist das egal. Sie sagt dann: „Poli, manchmal ist es eben so, dass man nass werden muss!“ Poli sieht das aber anders. Er meint, wenn es regnet, dann kann er doch einfach zu Hause bleiben, oder?

Noch hält er seine Augen geschlossen. Der Mann mit dem Ball ist noch immer da. Er schaut lachend auf Poli und fragt: „Na, was machen wir jetzt? Hören wir auf?“ Und bevor seine Mutter weiterredet, sagt er zu dem Mann noch schnell: „Bitte, bitte, bitte, komm morgen wieder, dann können wir weiter machen!“ „Gut“, sagt der Mann, „dann bis morgen. Ich bringe den Ball mit.“

Poli dreht sich um und öffnet seine Augen. Seine Mutter schiebt gerade die Gardinen zur Seite und öffnet das Fenster. Poli spürt die kalte Luft auf seiner Haut. Er hasst kalte Luft, vor allem früh am Morgen. Langsam bewegt er sich zum Rand seines Bettes, lässt seine nackten Füße runter fallen und streckt seine Beine aus. Jetzt steht er. „Komm“, sagt seine Mutter, „wir haben nicht viel Zeit“. Der Mann mit dem Fußball ist aber noch immer nicht verschwunden. Er steht jetzt neben dem Kleiderschrank und sagt: „Also, bis morgen!“

„Ja, bis morgen“, antwortet Poli. „Was sagst du?“, fragt seine Mutter. „Nichts“, sagt Poli. Er schaut auf den Stuhl neben dem Schrank. Dort hat seine Mutter seine Kleider bereit gelegt. Ganz unten seine rote Hose, darauf sein blaues Shirt mit den springenden Delphinen, dann seine Unterhose, seine roten Socken und ganz oben seine schwarzen Schuhe. Er liebt seine schwarzen Schuhe, weil er damit ganz gut Fußball spielen kann. Er hasst es aber seine Kleider anzuziehen: erst die Unterhose, dann die Socken, dann das Shirt mit den Delphinen, dann seine Hose und dann seine Schuhe.

Der Mann mit dem Ball ist jetzt verschwunden. Poli fühlt sich ein bisschen alleine. „Ich will die Delphine nicht“, sagt er zu seiner Mutter. „Nein?“, antwortet sie, „und warum nicht? Deine Tante hat das Shirt für dich aus Griechenland mitgebracht!“ Aber Poli mag heute die Delphine nicht, und seine Tante und Griechenland sowieso nicht. In einem blauen Shirt mit Delphinen aus Griechenland werden keine Tore geschossen. Und ganz sicher nicht, wenn auch noch seine Tante dabei ist.

„Dein Vater wartet noch immer“, sagt seine Mutter. Poli geht jetzt ins Badezimmer, wo die Zahnbürste wartet. Sie steht in einem Glas und riecht nach Pfefferminz. Neben dem Glas liegt eine Tube Zahnpasta. Auch sie riecht nach Pfefferminz. Alles im Badezimmer riecht nach Pfefferminz. Und Poli hasst heute den Geruch von Pfefferminz. Wie soll man mit dem Geruch von Pfefferminz in seiner Nase ein Tor schießen?

Seine Mutter steht neben Poli und schaut zu. „Ich bin gespannt“, sagt sie. Poli weiß ganz genau, was seine Mutter damit meint. Wenn sie sagt, dass sie gespannt ist, muss Poli aufpassen. Er klettert auf den Hocker, will mit seiner rechten Hand nach der Zahnpasta greifen und hört schon, dass er falsch liegt. „Nein Poli“, sagt seine Mutter, „die Zahnpasta kannst du am besten in deiner linken Hand nehmen. Die rechte Hand ist für die Bürste. Das weißt du doch schon? Gestern hast du es richtig gemacht.“

Gestern? Gestern hat Poli Fußball gespielt. Mit Bruno und Vanessa und Kevin und Daniel. Und beinah hat Poli ein Tor geschossen! Poli erinnert sich noch deutlich daran. Daniel hatte den Ball von links gespielt. Vanessa stand im Tor. Und Poli hatte geschossen, mit seinem schwarzen linken Schuh. Oder mit dem rechten Schuh? Und den Ball voll getroffen. Pöff hatte der Ball gesagt. Richtig pöff! Vanessa hat den Ball leider mit ihrer linken Hand gestoppt. Oder war es mit ihrer rechten Hand? Und Bruno hatte gesagt: „Poh, poh, das war beinah ein Tor!“

Poli steht auf dem Hocker. In seiner linken Hand hält er die Tube Zahnpasta, in seiner rechten Hand die Bürste. In den Spiegel kann er nicht schauen, weil er zu klein ist. Das macht ihm aber nichts. Er weiß doch, dass im Spiegel der Mann mit dem Ball wartet. „Ja, morgen“, sagt er, „morgen machen wir weiter“. „Was meinst du?“ fragt seine Mutter. „Nichts“, sagt Poli. Und er versucht die blaue Pasta auf die Bürste zu kriegen. Es gelingt! „Gut so“, sagt seine Mutter, „ein bisschen weniger hätte allerdings auch gereicht“.

22.08.2010

Angelo Poliziano. Brief an seinen Freund Pico della Mirandola

Salve! Heute war ich im Garten unterhalb von Montepulciano, wo ich als Kind immer wieder gespielt habe. Weil ich schon so lange aus meiner Heimatstadt weg bin, und die Menschen mich nicht erkennen, konnte ich ungestört umher gehen. Es war heiß, unter dem Schatten der Obstbäume war es aber kühl. Die Erinnerungen die auftauchten, bestätigten mir nochmals, was ich schon wusste: ich lebte als Kind in einem Traum. So ist es lieber Freund: alles was ich in meinem Leben gedacht und geschrieben habe, ist eine Verarbeitung dieser kindlichen Träume. Ich habe nie etwas gedacht, was ich als Kind nicht schon geträumt hatte.

Am späten Nachmittag habe ich mich an die Stelle gewagt, wo damals der Leichnam meines Vaters gefunden wurde. Die kennst die Geschichte: er wurde – ich war zehn Jahre alt – wegen seiner Beziehung zu den Medicis in Firenze umgebracht. Wo seine Feinde ihn ermordet haben, ist nicht bekannt, die Stelle wo sie seinen Leichnam entsorgt haben, aber schon. Sie haben ihn unten bei der Stadtmauer in eine Quelle geworfen, gerade dort, wo ich als Kind immer wieder vorbei kam, wenn ich nach Hause wollte.

Ich hatte heute den Mut, mir die Stelle anzuschauen. Sie sah verlassen aus. Über dem quadratischen Loch, etwa zwei Mal zwei Meter, wachsen Buchse, die wie Arkaden über dem regungslosen Wasser stehen und es bedecken. Ich weiß noch, dass ich damals als Kind am Abend in das tiefe und dunkle Wasser schaute, um die ersten Sterne gespiegelt zu sehen. Heute wurde nichts gespiegelt – als ich mich nach vorne beugte – auch nicht mein Gesicht. Mir schien es so zu sein, dass die Quelle ihre Augen definitiv verschlossen hatte.

Du weißt, wie es damals weiter gegangen ist. Ich wurde nach Firenze geschickt und in der Familie von Lorenzo de Medici aufgenommen. Dort lernte ich die griechische Sprache kennen und übersetzte schon als Jugendlicher Fragmente aus den Werken von Homer. Marsilio Ficino und Christopher Landino wurden meine Lehrer. Sie führten mich in die Philosophie der Antike ein – vor allem in die Denkweise Platons, obwohl ich innerlich eher bei Aristoteles zu Hause war. Später wurde ich beauftragt, die Erziehung von Giulio, Piero und Giovanni, den Söhnen von Lorenzo und Clarissa, in die Hand zu nehmen.

Ich habe damals die schrecklichen Ereignisse mit meinem Vater schnell vergessen, so, als ob sie gar nicht zu meinem Leben gehörten. Sein Tod wurde in mir zu einem Loch, das zugewachsen ist. Im Nachhinein muss ich aber feststellen, dass dieses Loch mein ganzes weiteres Leben, mein Denken und mein Dichten grundsätzlich bestimmt hat. Alleine meine Neigung zum aristotelischen Denken und meine Abwehr gegen die im Träumen verankerte Sichtweise von Platon – ach, wie sehr hat Marsilio sich immer wieder geärgert! – lag in der Tatsache begründet, dass für mich der Schreck des Todes immer und überall lauert. Ist Aristoteles letztendlich nicht der große Philosoph des Todes?

Ich wollte nie ein Philosoph sein. Ich wollte mich, ohne es zu wissen, durch den Tod meines Vaters zu den Träumen meiner Kindheit zurück arbeiten, aber so, dass die poetischen Bilder rückwärts durch das Nadelöhr des Todes reifen konnten. Ich wollte, lieber Pico, als Dichter die Träume meiner Jugend im Lichte des Todes überprüfen. Und so verstand ich auch die Werke Homers: sie stellen die Frage der Katastrophe. Wenn Troja gefallen ist und die Helden tot sind, welche Bedeutung haben die Ereignisse dann im Nachhinein?

Als ich heute am frühen Abend an dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, vorbei ging und das Fenster meines Schlafzimmers sah, brach mein Herz. Jeden Morgen hing ich damals aufgeregt aus dem Fenster, danach verlangend, mich in den Tag hinein zu begeben. Wie unschuldig, hoffnungsvoll und unbefangen sind wir als Kinder! Und wie weit entfernen wir uns als Erwachsene von dieser spontanen Freude? Liegt in dieser Frage nicht die eigentliche Aufgabe der Poesie und der Philosophie: Was sagt die Kindheit eigentlich über die Natur des Menschen aus? Welche Bedeutung-für-sich, ich meine: nicht nur als „Vorbereitung“, sondern als „Zustand“, hat die Kindheit zwischen Geburt und Tod? Oder anders gesagt: was aus der Kindheit ist deutlich stärker als der Tod?

Ich war noch in Gedanken versunken, als die Seitentür des Hauses sich öffnete, dort, wo damals das Getreide in den Speicher gebracht wurde. Eine alte Frau erschien, ich erkannt sie sofort als unsere Köchin. Verwirrt drehte ich mich um, machte ein paar Schritte und hörte sie dann sagen: „Angelo? Angelo? Bist du es?“ Ich wendete mich zu ihr und sagte: „Ja, Lucia, ich bin es...“ Sie kam auf mich zu, schaute mir in die Augen und sagte: „Ja, du bist es! Ich sehe es in deinen traurigen Augen.“ Und sie wies auf die alte Bank an der anderen Seite der Straße und sagte: „Komm, erzähl mir von Firenze!“

15.08.2010

Integration (3). Über Albertus Magnus und ein strahlendes Herz in Köln

In Köln gibt es eine Handvoll Leute, die ganz vorsichtig, so wie man das zurzeit ganz bescheiden macht, auf die natürlich unwahrscheinliche Möglichkeit schauen, ein „anthroposophisches“ Zentrum zu eröffnen. Die Urheberin der noch-nicht-oder-vielleicht-doch Initiative ist Anne Marisch, meine Kollegin im Seminar für Waldorfpädagogik. Sie wird in ein paar Jahren in Rente gehen, meint jedoch, dass für die Stadt Köln „noch mal etwas Gutes getan werden könnte“. Und damit ist die Frage gestellt: was gäbe es Gutes für die Metropole am Rhein?

Erst hat Anne Marisch gezögert, mir dann aber doch erlaubt, von ihrer Idee zu berichten. Es gibt Vorbilder: Basel-Mitte in Basel, Forum Kreuzberg in Berlin, Forum Drei in Stuttgart... So eine Einrichtung fehlt in Köln. Aus irgendeinem Grund ist die Präsenz der Anthroposophie in Köln immer mehr oder weniger versteckt geblieben, ich meine: es gibt natürlich eine Menge anthroposophischer Initiativen und Einrichtungen, wie Waldorfschulen, Waldorfkindergärten, zwei Gemeinden der Christengemeinschaft, Ärzte und Therapeuten, ein Seminar für Waldorfpädagogik, eine Buchhandlung und ein Bildungswerk, ein für alle Kölner erkennbarer und streitbarer „Kulturort“ ist in der Stadt aber nie entstanden.

Die Rheinmetropole wird noch immer stark von der Katholischen Kirche geprägt. Direkt an der großen Kathedrale befindet sich das Domforum, ein Ort der Katholiken, in dem die aktuellen Themen des Lebens in der Großstadt energisch angesprochen und diskutiert werden. Obwohl die geistige Führung in Köln, der Bischof und sein Stab also, eher dogmatisch orientiert sind, lebt im Domforum manchmal ein sprühender Geist, offen für die Fragen der Zeit. In Köln ist katholische Kirche nicht immer gleich katholische Kirche.

Ohne Weiteres einfach ein „anthroposophisches“ Zentrum zu eröffnen, würde allerdings nicht funktionieren. Mir scheint die Zeit längst vorbei zu sein, in der die Anthroposophie-als-Weltanschauung in der Öffentlichkeit eine Wirkung hat. Nein, ein anthroposophisches Zentrum in Köln müsste eine erkennbare und spezifische Idee ausstrahlen, eine Sichtweise auf das Leben in der Stadt, die von allen Einwohnern sofort verstanden wird. Mir scheint diesbezüglich die Idee der Integration eine fruchtbare Quelle zu sein.

Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie wenig Anthroposophen sich in den öffentlichen Diskurs über die Fragen der Integration einbringen. Integration ist ein dringendes Thema in ganz vielen Bereichen des Lebens: im sozialen Leben, in der Pädagogik und der Bildung, im Bereich des Rechts, in der Religion, in der Wirtschaft... Und die anthroposophische Art des Erkennens wäre wohl im Stande, auf die Fragen der Integration ein neues Licht zu werfen.

Ein Ort der Integration könnte eine Werkstatt des Schicksals sein. Man könnte sich zum Beispiel Kurse vorstellen, in denen die Biographien der Menschen im Lichte der Begegnung mit der (deutschen) Leitkultur angeschaut werden. Eine Frage an dieser Stelle wäre: warum sucht ein Mensch aus der Türkei das Leben in Deutschland? In welcher innerlichen und äußerlichen Lage befindet sich ein Mensch aus Iran, der sich vielleicht eher Perser nennt? Und umgekehrt: was bedeutet die Präsenz der Türken und Perser für Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind?

Auch könnte man sich einen Rechtsbeistand vorstellen, um Menschen in Bezug auf die oft schwierigen Migrationsregeln zu beraten. Die juristische Beratung könnte sich mit der oben genannten biographischen Frage verbinden: sehr oft verstecken sich hinter rein sachlichen Problemen noch andere Fragestellungen, die eher sozialer oder kultureller Natur sind. Mit rechtlichen Fragen geht manchmal eine soziale Isolierung einher, die im Rahmen eines Ortes des Schicksals aufgehoben werden könnte.

Ein Ort der Integration wäre ein Ort der Begegnung. Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler, Aktivisten und Vertreter der Religionen könnten eingeladen werden, um über brennende Themen zu sprechen: alles zwischen Burka-ja-oder-nein und die unterschiedlichen spirituellen oder gerade-nicht-spirituellen Weltbilder könnten in Vorlesungen, Podiumsgesprächen oder Workshops verarbeitet werden. Mich würde dabei vor allem auch interessieren, welchen Stellenwert das esoterisch-spirituelle Denken in den unterschiedlichen Religionen hat und wie der Weg der Verinnerlichung gedacht und praktiziert wird.

Ein wichtiges Feld würde die Pädagogik ausmachen. Die Waldorfpädagogik ist im „christlichen“ Diskurs in Europa entstanden und dort eingebunden, befindet sich allerdings glücklicher Weise weltweit in einer spannenden Lage: wie verbindet sich die christliche Tradition mit den islamischen, hinduistischen, buddhistischen und indianischen (wie in den Anden) Traditionen? Der eigentliche Diskurs ist längst eine integrative Angelegenheit geworden, ist aber in europäischen Städten wie in Köln noch nicht wirklich angekommen.

Das Seminar für Waldorfpädagogik in Köln hatte im Laufe der letzten Jahre mit Menschen aus Peru, Kuba, der Türkei, Iran, Japan, Südkorea und den slawischen Ländern zu tun. Und immer wieder tauchten dadurch interessante Fragen auf: wie verhalten sich die alten Weisheiten von Zarathustra, die noch immer in Persien/Iran lebendig sind, zu den spirituellen Inhalten des esoterischen Christentums? Oder wie steht es diesbezüglich mit den mythischen Vorstellungen aus den Anden (wie in meinem Buch „Armut als Schicksal“ beschrieben)? Wenn die Anthroposophie sich als ein Angebot für die ganze Menschheit versteht, müssten die unterschiedlichen Traditionen integriert werden.

Was wird aus Köln? Der spirituelle Forscher Marko Pogacnik meint, dass sich in Köln zurzeit ein neues „Herz-Chakra“ in der Erde öffnet. Und ich glaube, dass das stimmt: etwas in Köln fängt an zu leuchten – ich werde vielleicht irgendwann in den nächsten Wochen versuchen, das zu beschreiben... Das Herz ist überhaupt das Organ-der-Integration. Mit einer Variation auf eine bekannte Aussage des Kölner Helden Albertus Magnus: „Das Herz ist so groß, das alles hinein passt“.

08.08.2010

Integration (2). Abgründe und Schatten in der deutschen Leitkultur

Das Empfinden, dass man nicht in Deutschland, Russland, Afghanistan, Japan oder Bolivien geboren worden ist, sondern auf einem Planeten namens Erde, irgendwo und irgendwann, könnte man mit den Worten Rudolf Steiners als „michaelisch“ bezeichnen. Den Erzengel Michael, der unterwegs ist um zu einer höheren Stufe in den göttlichen Hierarchien aufzusteigen, zu den Archai, könnte man auch den Begleiter der Mondialisierung nennen. In seiner Welt gibt es keine Völker und Nationalitäten mehr, nur noch Individuen, die sich im Spiegel der ganzen Menschheit sehen wollen.

Den Spiegel findet man überall. Man braucht nicht in die Ferne zu reisen, um dem Fremden zu begegnen. In jeder Großstadt ist die ganze Welt vertreten. In meinem kleinen Viertel in Köln, in Anlehnung an Paris liebevoll „Kwartier Latäng“ genannt, trifft man Menschen aus Iran, dem Irak, Ägypten, Polen, Rumänien, der Türkei, Italien, Thailand, Argentinien, Peru und natürlich aus Holland... Mondialisierung heißt, dass die ganze Menschheit an jedem Fleck der Erde kulturell vertreten sein möchte.

Was ist das für eine Tätigkeit, in den Spiegel der Menschheit zu schauen? Integration beinhaltet weitaus mehr, als sich an die Werte und Gepflogenheiten einer dominanten Kultur – man spricht wohl von Leitkultur – anzupassen. Das Lernen einer Sprache, in Deutschland Deutsch, in Frankreich Französisch, in Amerika Englisch, ist eine notwendige Voraussetzung für eine Annäherung an die jeweilige Leitkultur. Deutsch als Fremdsprache zu sprechen und zu schreiben ist allerdings mehr als eine rein sprachliche Angelegenheit – es bedeutet ein Eintauchen in eine bestimmte Art und Weise auf das Leben und die Welt zu schauen.

Die deutsche Leitkultur spiegelt ein paar große Aspekte des Mensch-Seins. Ich bin nicht im Stande die Sichtweisen dieser Kultur adäquat zu beschreiben, dazu braucht man Erkenntnisse, die ich nicht habe. Was mir allerdings immer wieder an der deutschen Leitkultur auffällt, ist erstens eine intime Beziehung zu Begriffen. In Deutschland, wesentlich stärker als in Spanien oder England, werden Begriffe bis zu Ende gedacht. Zu den Deutschen scheinen mir die Neigung und die Fähigkeit zu gehören, Gedanken klar zu formulieren und von der Sphäre des Traumhaften zu befreien. Begriffe müssen „genau“ sein, fast „juristisch“ abgeklärt. Die eher intuitive Art und Weise auf Gedanken hinzuweisen, wie die Engländer das machen („Well, you know what I mean, don´t you?“), ist für manche Deutsche unerträglich.

Zweitens fällt mir immer wieder auf, dass die Deutschen – anders als zum Beispiel die Franzosen –Begriffe nicht als persönliche Schöpfungen verstehen. In der deutschen Leitkultur haben Ideen eigentlich keinen Autor und werden auch nicht als Schmuckstücke verstanden, mit denen man die eigene Persönlichkeit ziert. Begriffe sind quasi objektive Gegebenheiten, die frei im Raum schweben und nicht an Personen gebunden sind. Ich habe öfters bemerkt, dass dies für manche Deutsche so selbstverständlich ist, dass sie nicht einmal verstehen, was ich hier meine.

Drittens umfasst die deutsche Leitkultur einerseits die höchsten Ideale (Friedrich Schiller ist diesbezüglich das große Vorbild), andererseits die Banalität des Bösen (Hannah Arendt). Nicht, dass die Deutschen die enorme Spannweite auch immer denken könnten, nein, ich würde sagen: in gewissem Sinne gerade noch immer nicht, aber FÜHLEN können sie sie allerdings. Mit diesem Fühlen geht ein Ernst einher, der auf einer Ehrfurcht vor den Höhen und Tiefen („Stirb' und Werde“) des Lebens beruht. Manchmal wirkt der Ernst wie eine unterschwellige Schwere, die nicht locker lässt.

Integration fängt mit Begegnung an, und zwar mit einer, die von mir aus gewollt wird. Erst wenn ich bereit bin, mich im Antlitz des anderen Menschen zu ändern, oder vielleicht besser gesagt: zu vervollständigen, findet Integration statt. Die Sache ist nicht nur, dass ich mich in eine fremde Kultur integriere, sondern vor allem auch, dass ich dem Fremden in mir einen Platz gebe. Letztendlich findet Integration in mir statt. Diesbezüglich scheint es mir allerdings so zu sein, dass der oben erwähnte Ernst der Deutschen manchen Fremdlingen richtig Schwierigkeiten bereitet.

Türken, Perser, Latinos, ja, auch die Holländer, ärgern sich manchmal an der – als peinlich erlebten – pünktlichen Genauigkeit der Deutschen. Und sie können manchmal die unterschwellige Schwere nicht nachvollziehen, das Misstrauen, die Distanz... Sie klagen zum Beispiel darüber, dass die Reisenden in den deutschen Zügen kaum mit einander plaudern: jeder verbirgt sich hinter seinem Laptop oder seiner Zeitung. Solange man allerdings als Fremdling vor dem Schatten des Ernstes stehen bleibt und sich nicht auf das Wesentliche einlässt, wird man nicht nur ausgeladen, sondern man lädt sich auch selber aus.

Es scheint mir schon zu stimmen, dass die Deutschen sich seit dem Holocaust selber nicht mehr verstehen. Aber sie fühlen umso mehr. Im Lichte der Integration ist ein ganz bestimmter Gedanke entscheidend, nämlich dieser: der Ernst der Deutschen, inklusive ihrer Schatten, betrifft eine Angelegenheit, die alle Menschen auf dem Planeten namens Erde angehen: die Empfindung, dass das Leben Abgründe kennt. Sich in die deutsche Leitkultur hinein zu begeben, bedeutet auch, sich auf diese Abgründe einzulassen. Um es mit Rudolf Steiner zu sagen: in einer michaelischen Kultur schaut man dem Drachen, der aus dem Abgrund aufsteigt, voll bewusst in die Augen.

01.08.2010

Integration (1). Über den Diskurs zwischen Islam und Christentum

Mit Integration ist ein Geschehen gemeint, das sich weltweit vollzieht. Überall in der ganzen Welt gibt es kleinere Völker, Gruppen von Menschen und auch individuelle Personen, die sich mit einer vor Ort herrschenden dominanten Kultur und einem ihnen fremden Lebensstil abzufinden haben. Manchmal integrieren die kleineren Einheiten sich gerade nicht, sie zeigen Berührungsängste und haben die Neigung sich abzuschotten, meistens aber finden sie eine Balance zwischen Eigenheit und Gemeinsamkeit. Das gegenseitige Suchen nach dieser Balance könnte man Integration nennen.

Integration ist eine uralte Angelegenheit. In allen großen, ehemaligen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren dieser Welt – Uruk, Persepolis, Athen, Damaskus, Bagdad, Rom, Toledo, Paris, New York, Singapur – lag und liegt das spannende Vibrieren-in-die-Zukunft-hinein in der Tatsache, dass unterschiedliche Kulturen sich trafen und treffen. Alleine Europa ist vom Zusammenkommen unterschiedlicher Kulturen geprägt, die in einem Blogtext vollständig aufzulisten nicht möglich wäre.

Aus europäischer Sicht hat die Integration zwei Achsen. Die erste bewegt sich zwischen Ost und West, die zweite verbindet Nord und Süd. Die Ost-West Achse ist die ältere, sie ist schon in der Antike klar zu erkennen (Athen und Persepolis) und hat zum Beispiel zu den Eroberungszügen von Alexander dem Großen geführt. Zurzeit erleben wir eine Ausweitung dieser Achse: auch China – seit dem Besuch von Richard Nixon in Peking 1972 – lässt mittlerweile lautstark von sich hören. (Interessant ist übrigens, wie ich schon in meinem Blog über Singapur geschrieben habe, dass diese Achse sich verdoppelt hat: sie läuft einerseits noch immer über Europa, andererseits allerdings über den Stillen Ozean, anders gesagt: ohne die Beteiligung Europas.)

Die Nord-Süd Achse ist grob mit dem Stichwort Kolonialisierung anzudeuten. Wie Eduardo Galeano in seinem Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ deutlich gemacht hat, ist sie zu einer Beziehung zwischen Tätern und Opfern geworden. Was wir in Europa Aufklärung und Modernisierung nennen, ist mit den südamerikanischen Bodenschätzen (Gold, Silber, Wald) finanziert worden. Und wer sich zum Beispiel in Spanien auskennt, wo Millionen Immigranten aus den südamerikanischen Ländern leben, weiß, dass die Beziehungen noch immer peinlich asymmetrisch sind.

Die Integration findet ihren Grund in dem Umstand, dass die Zeit schon längst vorbei ist, in der man in Holland, Italien, Peru, Irak oder Indien geboren wird – denn man wird heute auf einem Planeten namens Erde geboren. Die (historische) Einteilung der Nationalstaaten als Rechtsprinzip stimmt mit dem allgemeinen Empfinden nicht mehr überein – auch eine Sache des Rechts! – dass jede Person frei sein müsste, genau dort zu leben, wo sie leben möchte. Moderne Biographien halten sich in ihrer Entfaltung nicht unbedingt an Landesgrenzen, die in der Vergangenheit immer wieder umkämpft worden sind. (Auch interessant: Gerade um Grenzen hat es oft Streit gegeben.) Das Recht hat einen Pferdefuß: es kommt mit dem freien Geist nicht mit.

Nun wird meistens gemeint, dass sich Nationalstaaten hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen gegen Fremdlinge abschotten. Die westlichen Länder, so heißt es (und das meint auch Galeano), verteidigen ihren Reichtum gegen die Armut in östlichen und südlichen Ländern. Natürlich spielen wirtschaftliche Interessen eine große Rolle, entscheidend scheinen sie mir allerdings nicht zu sein. Ich glaube eher, dass die Abschottung in einer Angst vor anderen „Epistemen“, das heißt: vor anderen „Wahrheits- und Erkenntnissystemen“ begründet liegt. In westlichen Ländern fühlen sich manche Menschen in ihren intellektuellen, religiösen und moralischen Sichtweisen auf das Leben und die Welt bedroht.

Wenn zurzeit in der Öffentlichkeit Frankreichs, Belgiens, Hollands und Deutschlands von Integration gesprochen wird, handelt es sich allerdings immer um ganz bestimmte Gruppen von Menschen, vor allem um Türken, Kurden, Marokkaner (in Holland) und um Araber. Mit Persern, Indern, Afrikanern, Chinesen oder Brasilianern scheint niemand ein Problem zu haben. Dieser Umstand beinhaltet natürlich erst einmal eine sehr gute Nachricht: ganz viel Integration macht offenbar auch Spaß. Die Frage ist allerdings, warum gerade Türken und Araber ins Visier gekommen sind. Welche „Aussagen“ machen sie über das Leben und die Welt, die gerade in so genannten aufgeklärten Ländern so viele Schwierigkeiten erzeugen? Dürfte man nicht meinen, dass gerade die aufgeklärten Kulturen im Stande sein müssten, das Fremde in sich aufzunehmen oder zumindest frei im Raum stehen zu lassen?

Vor dreißig Jahren lernte ich Hamadi kennen, einen liberalen Muslim aus Tunesien, der in Amsterdam lebte. Mit seiner holländischen Frau Eva hatte er zwei Kinder aus seinem Heimatland adoptiert. Die Gespräche, die wir damals über den Islam und das „freie“ Leben in Amsterdam führten, waren richtig verzwickt. Wahrheiten prallten auf einander, Widersprüche gab es bei ihm und bei mir an allen Ecken. Und auch wenn Hamadi liberal war, vertrat er eine Sichtweise, die ich nur schwer akzeptieren konnte.

Er meinte, dass die Menschen im Westen nur wirtschaftlich orientiert seien. Die Holländer nannte er „Kaufleute“, die in ihren Beziehungen zu anderen Völkern nur einen ökonomischen Mehrwert sähen, letztendlich um die eigenen „modernen Gelüste“ ausleben zu können. Die Holländer hätten Gott längst verloren, auch wenn sie vielleicht am Sonntag brav in die Kirche gingen. „Der aufgeklärte Protestantismus“, so meinte Hamadi, „ist die teuflische Kunst Lust und Moral bequem zu trennen“. Ich musste einräumen, dass ich gegen diese Sichtweise nichts einzuwenden hatte.

Umgekehrt fand ich allerdings seinen Gott SEHR streng. Allah überlässt die Moral nicht der freien Entscheidung der Einzelnen, bestimmt was Männer, vor allem auch Frauen und Kinder sollen oder gerade nicht sollen, und schreibt genau wie im Alten Testament vor, was richtig und falsch ist. „Der Islam“, meinte ich, „hat ein Problem mit dem, was wir im Westen zu Recht hoch halten: der Möglichkeit frei und unbefangen zu denken“. Um sich von den Vorschriften im Islam zu befreien, muss man nicht nur liberal, sondern SEHR liberal sein.

Im Diskurs zwischen Islam und Christentum scheint es mir um die sich spiegelnden Fragen zu gehen: muss man, wie Friedrich Nietzsche, Gott in sich selber töten (oder „einfrieren“ - der protestantische Gott ist bekanntlich ein kalter Gott!), um aufgeklärt und frei von Ihm zu sein? Und kann man umgekehrt eine Beziehung zu Gott (zu Allah) haben, ohne Seine schriftlichen Festlegungen ins Zentrum seines Denkens zu stellen? Beide Fragen scheinen mir richtig zu sein. Und beide Fragen bewegen sich in den Herzen beider Kulturen, die übrigens – mit dem Judentum – einen gemeinsamen Ursprung haben.