25.06.2011

Samuel ist unterwegs (3). Was Lehm war, wird Sand

Hinter Utrecht wird alles anders. Was Lehm war, wird Sand, der vor unvorstellbaren Ewigkeiten von Eismassen dorthin gedrängt wurde, wo ich mich gerade befinde. Von der damaligen Präsenz des Eises ist nicht einmal eine Erinnerung übriggeblieben, keine Legende, kein Name, nur eine Landschaft als Negativ, das sich durchgehend ins Positive bewegt. Der Sand ist wie eine offene Schale, in der altes-frisches Licht aus Vorzeiten hervorgezaubert wird. Die Hoheit des hohen Nordens hat die Landschaft nie verlassen.

Die Region heißt Veluwe, was „gelbe Aue“ bedeutet. Aus Sicht der Achse zwischen Amsterdam und Köln liegt sie links im Abseits, mehr als ein freilassender Hinweis auf Uraltes will sie nicht sein. In meinem Leben allerdings ist sie eine Hauptsache, geistige Gebärmutter, der Traum, aus dem ich aufgewacht bin. Sie war in meiner Jugend der Ort-der-echten-Dinge, die Bühne meiner wahren Empfindungen. Irgendwie ist aus ihr eine Gestalt hervorgekommen, die mir zum Gefährten geworden ist, und mir immer wieder hilft, mir eine Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die ich nicht einmal denken kann.

Holland ist sichtbar dunkel und spürbar jung, kämpft um seine Existenz, jeden Tag wieder. Die gelbe Aue ist unsichtbar hell und unfassbar alt, braucht sich nicht zu beweisen, wartet einfach im Abseits, bis sie von erwachten Menschen als Hauptsache anerkannt wird. Ihre Sprache mag langsam sein, ihre Sanddünen schwer zu begehen, ihre Wasserquellen tief, ihre Götter in dunklen Wäldern versteckt, ihre Bewohner verschlossen, ihr Warten ist jedoch groß und unbeirrbar, wie das Warten des Nordens überhaupt. Mit der Veluwe fängt Hibernia an.

Was ich damals als Kind gefunden habe – die grünen Steine, die Heideblumen, die toten Eidechsen, die Häute der Schlangen – das liegt alles noch immer in meiner Hand. Und die Gerüche sind noch in meiner Nase, reichen tief und stiftend im mich hinein, wecken mich zu etwas Unbestimmtem, erzeugen undenkbare Gedanken, eröffnen Felder der Sehnsüchte, machen alles groß und unbeirrbar. Und vor allem: Was unvorstellbare Vergangenheit ist, verschmilzt mit unvorstellbarer Zukunft.

Als der Zug an der Kleinstadt Ede vorbei rast, sitze ich wieder in dem Wohnwagen. Ich bin dreizehn Jahre in der Zeit zurückversetzt, es ist Herbst, das Leben scheint an einem Nullpunkt angekommen zu sein, mein Herz ist schwer, mein Körper erschöpft, meine Arbeit kommt mir sinnlos vor, das Warten ist unerträglich geworden. Und ich weiß im Nachhinein, während der Zug nicht mehr als eine halbe Minute braucht, um den Ort hinter sich zu lassen: Damals hat der Text, den ich gerade schreibe, angefangen.

Das, was von rechts nach links läuft, was also im Kommen ist, wird von einer Sprache getragen, die langsam und gewaltig ist. Wahre Texte sind keine Nachrichten, auch keine Erzählungen oder Protokolle, sondern Ereignisse. Und Nullpunkte sind keine biographischen Krisen, sondern Durchgänge, geheime Passagen, Öffnungen außerhalb allem Vorstellbarem, Lichtungen jenseits bereits Bekanntem. Der kleine Wohnwagen in Ede, etwa vierzehn Quadratmeter Grabzimmer, ist in mir noch immer da. Es ist jedoch leer.

1 Kommentar:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

DAS ABENTEUER DER LEERE

Offen bin ich
doch leer ist es
in mir
leer ist es um mich
herum.
Was braucht es, um das
Abenteuer der Leere
zu bestehen?
Es braucht Geistesgegenwart
für das, was kommen soll...

(Michael Heinen-Anders)