16.07.2011

Samuel ist unterwegs (4). In einer Wunde des Krieges

Arnhem – Utrecht – Amsterdam: Horizontale Trinität in meinem Leben, eine Bewegung von einem sich öffnenden Anfang über eine geschlossene Mitte bis zu einem sinkenden Ziel. Ich sage es heute: Amsterdam ist dabei zu versinken, entfaltet seine letzten Kräfte im Geschehen eines langsamen Verschwindens, versucht jedoch definitiv Schiff zu werden, sich von innen aus beständig zu machen, um irgendwann mal als Gesamtheit auszufahren, dorthin, wo ihre Gründer, die Wikinger, stolz auf festen Felsen lebten. Der Versuch dürfte allerdings scheitern, weil die Stadt – hat Rembrandt es uns nicht gezeigt? – ihr Gold nur im Versinken findet.

In Arnhem bin ich aufgewachsen. Der Name bedeutet: Ort wo die Adler zu Hause sind. Und so ist es auch: eine Jugend in dieser Stadt führt dazu, dass man sich über die klaren Bäche, die sanften Hügel, die sandigen Pfade und die Lichtungen im Wald erhebt, einen in die Höhe gefestigten Blick entwickelt, der auf Überblick und Zusammenhang ausgerichtet ist. Nur der Adler ist in Arnhem wirklich zu Hause, alle anderen Tiere sind Gäste.

Die Adler sind jedoch längst verschwunden – aber wohin? – und haben den Menschen das Adlerbewusstsein überlassen, dieses In-Kreisen-Schweben, diesen Weitblick zu haben, um das Eine und Einmalige irgendwann einmal greifen zu können. Was es noch gibt, sind die Hügel und die Bäche, die Pfade und die Lichtungen, und auch die Geister, die ihr Verbleiben tief in der Veluwe haben, sich manchmal in die nördlichen Gegenden der Stadt wagen, und in den Menschen vage Sehnsüchte wecken, stille Gefühle, die mit den geräuschlosen Trolleybussen übereinstimmen.

Die Straße, in der ich lebte, ist etwa einen knappen Kilometer lang und läuft gerade von den sich im Stillstand bewegenden Hügeln im Norden bis zu der flachen und sich in der Weite verlierenden Rheinebene im Süden. In diesem Übergang tritt das Wasser ans Tageslicht, in Bächen, Teichen und Quellen, verlässt die verbergende Sauberkeit den Sand und bietet sich den Forellen, Karpfen und Schwänen an, den Millionen Stichlingen auch, die mühelos Generation auf Generation hervorbringen und irgendwie wissen: Für die Nachkommen müssen wir verlässlich da sein.

Sauberes Wasser, das aus einem dunklen Untergrund an die Oberfläche sprudelt, um von einer hohen Warte heraus bemerkt zu werden: Hat Arnhem nicht dieses Grundbild in meine Seele eingeschrieben? Bin ich nicht immer noch dabei staunend und begierig auf das Klare zu schauen, das aus einer Tiefe himmelwärts hoch sickert, um letztendlich von dem großen Fluss, dem allmächtigen Strom mitgenommen zu werden, bis zum Ozean, wo alles Wasser wieder in sich kehrt, und sich in einer Unendlichkeit verliert?

Arnhem vollzieht sich noch immer in mir. Und das gilt auch für die Schlacht, die sechs Jahre vor meiner Geburt in der Stadt wütete, als die Alliierten mit Fallschirmen kamen und – noch schwebend zwischen Himmel und Erde – von den deutschen Soldaten wie Rebhühner abgeschossen wurden. Die verzweifelten jungen Männer, die Jagenden und die Gejagten, tobten noch immer herum. Ich bin ihnen als Kind begegnet, gerade auch dort wo die Wohnung war, in der ich mit meinen Eltern und Geschwistern lebte. Gerade an dieser Stelle explodierte eine kräftige Bombe, und in diese Wunde wurde kurz vor meiner Geburt das Haus meiner Jugend gebaut.

1 Kommentar:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

BEI IKEA

Ich sitze gemütlich
bei Ikea morgens
auf einer Bank.
Gegenüber streiten
sich Kunden
über ihren
neuen Schrank.
Mich kann der
morgendliche Zank
gar nicht bedrücken,
denn diese Bank
die stärkt meinen
Rücken.

(Michael Heinen-Anders)