27.05.2011

Samuel ist unterwegs. (1) Und radiert ein Selbstporträt

Der Zug macht sich frei von der Stadt. Langsam gleitet er über die Gleise, schüttelnd und manchmal eben singend, bedachtsam auch, als ginge es um seine letzte Fahrt, bei der er die Kurven durch die alten Viertel noch einmal in sich aufnehmen will. Als kurz darauf links und rechts die großen Bürotürme und Einkaufshallen am Stadtrand erscheinen, lässt er sich auf die Geradlinigkeit ein, gewinnt an Geschwindigkeit und akzeptiert was er ist: ein Eilzug. Ich spüre, wie mein Rücken gegen den Sitz gepresst wird, als ob der Zug mir sagt: Ich weiß, dass du da bist, ich befördere dich.

Ich schaue aus dem Fenster. Die Landschaft ist mir durch und durch bekannt, umschlingt nicht nur den Zug und meinen Körper, sondern auch mein Inneres, irgendwie eben mein ganzes Leben, das in meinen Erinnerungen aufbewahrt wird, ein grünes Leben in Wasser eingetaucht, von Kopfweiden und Holzbrücken und Fischreihern bevölkert. Und ich danke heute noch einmal dem großen Meister Rembrandt van Rijn, der mir den Blick geöffnet hat, für das, was im Sterben ist. Was das niedere Land einmal war, ist schon längst entschieden zur Seite geschoben worden, spricht allerdings noch in mir; und was da draußen spärlich übrig geblieben ist vom Alten, weckt die Sehnsucht zum Mitsterben.

Ich bin unterwegs. In etwa drei Stunden werde ich in Köln eintreffen, der soliden Stadt meiner Zukunft, in der Stadt mit der noch immer heilenden Haut, der Stadt der biegsamen Geschmeidigkeit... Für die Dauer der Reise werde ich allerdings dort sein, wo ich tatsächlich bin, am Fenster im Zug, bei den Orten und Landschaften also, die an mir vorüber ziehen. Ich will sie befragen. Sie gehören zu mir, zu meinem Leben, zu diesem merkwürdigen Vorgang des Daseins, des Werdens, vor allem auch des Gewordenen, dieser Kette von Ereignissen die hinter mir liegen und im Nachhinein immer wieder anders aussehen, und deswegen noch immer vor mir liegen. Irgendetwas aus der Zukunft scheint sich in meine Vergangenheit einzumischen, jeden Tag wieder, wie ein manipulierendes Gegenüber, das sich hinter den Tausend kleinen Dingen des Alltags verbirgt. Es macht alles zur Frage, auch die Orte und Landschaften, die zu mir gehören und gerade auf mich warten.

Ich heiße Samuel und mag es sehr, an einem Fenster zu sitzen. Ich bin ein Fenstermensch. Die Öffnungen für Licht und Luft sind in Vertrautes und Inneres eingebaut, gehen aus schützenden Wänden hervor, und bewirken etwas Doppeltes: Sie erlauben, dass ich bei und mit und in mir bleibe, dass ich ungestört bei mir nachfragen kann, mit mir selbst unterwegs, und wenn ich will, in mir versinken kann; und sie bieten Ausschau auf Fremdes, auf Leute und Straßen und Lastwägen und Wiesen und Esel (falls es welche gibt). Fenster ermöglichen eine sanfte Art des Tanzes, die zu mir passt, ein leises Schwenken von mir zu den Kopfweiden, Holzbrücken und Fischreihern. Der große Meister hat verstanden, was Fenster sind: Seine Radierungen sind gerade passende Ausschnitte, die ein Gleichgewicht zwischen Innerem und Äußerem herstellen.

Vielleicht werde ich heute noch öfters von Rembrandt erzählen. Sein Blick ist mein Blick geworden. Ein paar Kilometer außerhalb von Amsterdam, direkt am Fluss, steht eine alte Windmühle, eingeklemmt zwischen Ufer und Landstraße, an sonnigen Tagen wird ihrer Eigenheit laut durch gelbe Rennräder und rote Kinderwägen und orangen Hubschraubern widersprochen, allerdings noch immer angetrieben vom alten Westwind. Dass die Mühle nicht verloren geht, verdanken wir dem Blick des alten Meisters, der es auch im Nachhinein schafft, das Wesentliche im Erscheinenden hervorzuheben. Sein Blick ist mein Blick geworden, vielleicht aber noch nicht ganz: Werde ich je im Stande sein, so auf mich zu schauen, wie er gnadenlos auf sich geschaut hat?

(Fortsetzung folgt)

20.05.2011

Semai

Ich sah Dich sitzen,
plötzlich,
eingesunken,
vornübergebeugt
und weinend.

Du warst ausgehöhlt.

Das Gras war grün
und Pferde schnaubten
überall. Der Mann,
den Du nicht kanntest,
hatte um Deinen Hals
ein Seil gelegt.

Manchmal blickte er auf,
zu Dir,
sah aber nichts,
denn Deine Augen
waren von einem Vlies aus Schmerz
verdeckt.

Ich nenne Dich Semai,
so sagt es der Zug,
der sich langsam und singend
von der Stadt löst.
Ich höre die Stimme
Deines Vaters, sie spricht:
Du Traumkopf Semai,
singe das Lied über das Land,
das weit hinter den Dünen
im Nebel verschwand.

Und Du sangst. Und Dein Körper
bewegte sich schaukelnd
auf der Holzbank, hin
und her, sanft wie ein Schiff,
das ausgeladen wird. Hör!
Ein goldenes Segel erscheint
aus dem Nebel über dem Meer.
Und ein rauer Westwind
bringt alte Worte
von damals, als ein Gott
– er strahlte wie ein Mensch –
in dem kleinen Hafen eintraf,
die hohe Düne erklomm
aufs Meer zurückblickte,
schleppend, weinend sang und
weiter in den Osten zog, dorthin,
wo die leeren Orte warteten.
Und Dein Vater weiß es
wieder. Mit seinen Händen
knotet er die schweren Netze,
sieht die Schiffe wieder,
die nicht versinken konnten.
Sein Hafen ist wieder groß.

Das Gras war grün
und Pferde schnaubten
überall. Der Mann
hatte Dich gekauft.
Was wusste er vom Gold?
Was wusste er vom Hafen
und den schweren Netzen? Das Weinen
des Meeres kannte er nicht,
und sein Seil war grausam.
Er kannte nur die Hügel,
die nie schaukeln, das Gras
das nie singt, das Messer
das Brüder tötet.

Er kannte die Dämonen,
grün und groß und schnaufend,
die auf einmal erschienen,
flüchtend vor dem Glanz,
den er nicht sehen konnte.
Er schmiedete Amulette,
halbe, eiserne Monde,
die er mit seinen Stiefeln
im Boden zertrat.
Mit seinen Brüdern sprach er nicht
und seinem Pferd gab er
nur noch bittere Befehle.
Seine Angst war groß
vor den Dämonen, aber größer noch
die vor dem unsichtbaren Glanz,
dem Goldglanz aus dem Westen.

Manchmal blickte er auf,
zu Dir,
und sah auf Deinem Haar
einen Glanz, den er berühren
wollte, er tat es nie,
weil er sich nicht getraute.

Köln kommt näher und
ich habe es erfasst:
mich trägt der Boden
des Goldes, das Meer,
das einst die Schiffe brachte.

Semai: Goldkind. Küstenkind,
Beute. In der Einsamkeit
wurde Deine Seele tief. Hör
doch die Stimme Deines Vaters!
Er ruft Dich bei deinem Namen.

14.05.2011

Eine Kraftquelle in Köln. Über den umgekehrten Blues des Herzens

Zwei Jahre habe ich mit meiner Freundin in einem Penthouse in der Altstadt von Köln gelebt, direkt am Rhein. Ich habe mich in den Gassen dort sehr wohl gefühlt, immer gab es in irgendeiner Ecke Musik aus Südamerika, Jazz oder Blues aus Amerika, Chansons aus Frankreich. Vor allem in den Nächten, wenn ich bei geöffnetem Fenster an meinem Buch „Herzwerk“ geschrieben habe, genoss ich die Geigen der Zigeuner, die mich von tief unten erreichten.

Was mich vor allem immer wieder berührte, war das Wissen, dass die ganze Altstadt, nach den verheerenden Bombardements des Zweiten Weltkrieges, von den Kölnern peinlich genau wieder aufgebaut wurde. Das heutige Viertel ist ein Scheingebilde: Kein Stein liegt an der Stelle, an der er vor dem Krieg gelegen hat, nichtsdestotrotz wirkt das Ganze mehr oder weniger authentisch. Nur wenn man gut hinschaut, sieht man, dass es sich um eine Rekonstruktion handelt.

Eine falsche Schönheit also, die gerade schön ist, weil sie so liebevoll falsch ist. Die Altstadt von Köln ist in einer Wunde wieder aufgebaut worden, und in den noch immer brennenden Narben werden Lieder gesungen, Gläser leer getrunken, Bücher geschrieben, Kinder geboren und kosmische Visionen ergriffen.

Ohne Wunde keine Kraft. In seinem Buch „Wege der Erdheilung“ beschreibt Marko Pogacnik, dass sich nach seinem Empfinden in der Altstadt von Köln das Epizentrum eines sich neu bildenden Erd-Herz-Chakras befindet. Die genaue Stelle heißt „An Farina“ und liegt dem alten Rathaus gegenüber, etwa vierhundert Meter von meiner alten Wohnung entfernt. Die Erde „öffnet“ dort ein neues Kraftzentrum, das in der Zukunft einen Strahlungsumkreis von etwa 800 Kilometern haben wird.

An Farina ist ein stiller Innenhof, unter dem sich ein Parkhaus befindet. Ich kann bestätigen, dass dort etwas los ist. Immer wieder, wenn ich dort bin, mich hinsetzte und mich in die Stille hinein begebe, kommt es mir vor, als ob ich von einer goldenen Flut aufgenommen und getragen und geführt werde. Die Flut ist gleichzeitig leicht und kräftig, vergleichbar mit dem Gelb, das über einer Frühlingswiese schwebt. Sie zwingt zu nichts, ist allerdings sehr präsent.

In der heiter-ernsten Flut erscheine ich mir als ein Mensch, der – nur wenn er das will – mit seinen kantigen Widersprüchen ganz sachte in ein rhythmisches Fließen gebracht wird. Es ist nicht so, dass meine Widersprüche dort aufgehoben würden, nein, gerade nicht, sie werden sogar eher bestätigt, allerdings in Farben gehüllt, die sanft und freundlich sind. Ein inneres sanft-weiß-gelbes Licht beleuchtet die dunklen Ecken meiner Seele, und befreit dort Tausend leise fröhlich-traurige Melodien.

Die Flut wirkt wie ein Paradox. Einerseits ist sie groß und tief und mächtig, andererseits schüchtern und fein und heiter. Und wenn Du die Frühlingsflut einmal in Dir zugelassen hast, bleibt sie bei Dir, begleitet sie Dich, wohin Du auch gehst. Du brauchst nur die Stille in Dir aufzusuchen, um sie zu finden.

Durch die Flut wird eine Wunde geheilt, oder vielleicht besser gesagt: In ihr wird ein unbewusstes Weinen befreit und in eine leichte Musik verwandelt, die sich wie ein umgekehrter Blues verhält: Die Melodien tragen die tiefen Bässe. Die Melodien sind unerschöpflich, meine Aufmerksamkeit für sie ist noch im Kommen. Jedes Mal, wenn es mir gelingt, eine Melodie wirklich zu hören, dröhnen quasi von oben die Bässe, die die Instrumente der kosmischen Mächte sind.

Ich möchte an dieser Stelle Marko Pogacnik danken, dass er mich auf das Herz von Köln aufmerksam gemacht hat. Im Nachhinein verstehe ich, warum ich damals das Leben in der Altstadt gerade brauchte, um in einer Penthouse-Wohnung mein Buch „Herzwerk“ zu schreiben. Und meinen Lesern würde ich empfehlen: Geht mal an An Farina vorbei... Und stellt euch dann nebenbei auch noch die Frage, warum gerade dort die wunderschöne Statue „Frauen von Köln“ aufgestellt wurde.

06.05.2011

Brennende Reisepässe. Über die Aufgabe Deutschlands in veränderten Zeiten

Letzte Woche sagte mir ein Freund: „Innerlich habe ich meinen deutschen Reisepass schon längst verbrannt. Vom staatlichen Gebilde der deutschen Republik erwarte ich nichts mehr. Ich bin überzeugt, dass Deutschland als Nation seine Aufgabe verpasst hat.“ Als ich nachfragte, machte mein Freund einen Unterschied zwischen dem Staat und dem Kulturkreis Deutschlands. „Wenn es zum Beispiel um den deutschen Idealismus geht“, so meinte er, „bin ich noch immer voll dabei.“

Wie kam mein Freund zu dieser heftigen Aussage? Ich hatte von der historischen Entwicklung Europas gesprochen, und dabei vor allem auf die Süd-Nord-Achse hingewiesen: Im Süden gab es die alten Griechen, die die philosophische Reflexion, die zu den tragenden Ideen Europas führte, gebracht hatten. Diese Bewegung vom Süden aus, gipfelte in der Renaissance und der Aufklärung. Manchmal wird das moderne Europa als ein Ergebnis dieser historischen Entwicklung verstanden.

Es gab allerdings auch eine Bewegung, die vom Norden ausging. Sie drückte sich zum Beispiel in der schwindelerregenden Wirkung der Wikinger aus, die – anders als die Griechen – nie eine große Philosophie hervor zauberten. Die alten nordischen Mysterien, die übrigens relativ spät ihre Götterdämmerung erlebten, waren komplett anders gepolt. Dort ging es vor allen um die Verwandlung von Wut in Zorn, und um ein dementsprechendes Handeln. Ohne die Wikinger, so sagte ich, wäre das heutige Europa nicht entstanden.

Und so kam ich auf Deutschland zu sprechen, das zum Herzen Europas gehört. In der Spannung zwischen dem Norden und dem Süden hat aus meiner Sicht, der deutsche Kulturkreis eine ausgleichende Aufgabe, die im Grunde genommen beide Pole vereinigt. Und ich denke, dass diese Aufgabe bis heute aktuell ist: Nur augenscheinlich liegt die Spannung zwischen Nord und Süd in einer historischen Vergangenheit. Unter der Decke der Geschichte ist sie aber noch immer wirksam.

Ich sagte in dem Gespräch, dass Deutschland und die Deutschen in Bezug auf die ausgleichende Aufgabe vor allem seit dem Holocaust stark verunsichert sind. Mit dieser Verunsicherung geht allerdings eine Stimmung einher, „a mood of the country“, die ich – gerade weil ich Holländer bin? – immer wieder spüre, und die für mein Empfinden auch eine Hoffnung in sich birgt.

Ich würde diese Stimmung als ernsthaft, betroffen und nachdenklich beschreiben. Was die ganze Welt im Moment als „German Angst“ wahrnimmt, bedeutet nicht nur Lähmung, sondern auch ein positives Innehalten, eine Art innere Neuorientierung, die sich allerdings in den tieferen Schichten des Bewusstseins vollzieht.

Das postmoderne Europa ringt zurzeit mit großen Fragen, die direkt mit „aufgeklärten“ Kernideen zusammenhängen, die gerade nicht geklärt sind. Das ideelle Gefüge von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (mein Freund sprach von „Geschwisterlichkeit“) droht auseinander zu fallen, weil die widersprüchlichen Lügen mittlerweile unerträglich geworden sind.

Ich behaupte, dass von allen Ländern in Europa gerade Deutschland sich weigert, ich müsste natürlich schreiben: noch verweigert, sich dem Populismus zuzuwenden. Um ein Wort zu benützen, das Nietzsche so gerne mochte: „vielleicht“ findet Deutschland in seinem Innehalten eine Tür ins Innere und Offene... Die Flammen der Reisepässe würden dann die Überschreitung einer neuen Schwelle ermöglichen. Es ist spannend in Deutschland zu leben.