27.08.2011

Die Mülltonnen im Hof

Die Mülltonnen warten und
warten, die entschlossenen Deckel
sprechen leise blau und grau
und gelb, und eine lächelt,
sie wird von nassem Karton
ein bisschen aufgehüpft, sie
ist bereits unterwegs. Sechs
Tonnen warten und warten
im Hof, ihre Tage kommen
erst langsam: Dienstag und
Mittwoch und Donnerstag, grau
einmal in der Woche, gelb und blau
zweimal im Monat, der Rhythmus
ist Takt ohne Ende. Sie schweigen,
die Tonnen, sie müssen verbergen,
verhüllen, lügen, sie verteilen
was übrig bleibt in Plastik, Papier
und Restmüll, die Braune stinkt,
die Gelbe bleibt leicht, die Blaue
lächelt sich nach vorne. Ich denke:
sie stehen nicht im Hof, ich habe sie
in meiner Seele aufgestellt.

20.08.2011

Immer Regen im Sommer

Du, belebtes Dunkel,
Schatten im August,
du gleitest wie Wasser
in meine Wohnung,
bringst runde Fische
und schweigende Frösche,
du sprichst verhalten
über Hoffnung und lässt
die gelben und grauen
und blauen Mülltonnen
vertieft warten im Hof.
Ich lasse dich an mich
heran, deinen nassen Atem
auf meine Haut, und ich
suche deine Worte. Du sagst:
sei von deiner Zukunft
umgeben und getragen,
vom wartenden Fließen
deines Flusses, vom Wollen
der Liebe im Schatten.

13.08.2011

Samuel ist unterwegs (7). Ein naiver Schmetterling

Die Liebesfähigkeiten des Gottes meines Vaters waren beschränkt. Er war ein kleiner Gott, der auf der trockenen Ecke seines Universums ins Exil geraten war und deswegen meinte, sich ständig rechtfertigen zu müssen. Seine großen Taten lagen in der Vergangenheit: Die Schöpfung (hatte Er in sechs Tagen hingekriegt), die sprachliche Nachschöpfung namens Bibel (dafür hatte Er allerdings Generationen von Menschen gebraucht, die nicht verstanden, was Er geschrieben haben wollte), letztendlich der Tod am Kreuz, die Höllenfahrt und die Auferstehung im Grab (geschah in drei Tagen).

Der Gott meines Vaters war immer damit beschäftigt, den Menschen seine Vergangenheit zu erklären. Als Kind bin ich Ihm nie begegnet, ich vermutete damals, dass er einfach zu viel Zeit benötigte, um seine Archive ständig anzupassen. Und als ich meinen Vater fragte, warum unser Gott so viele Namen hätte – Gott, Herr, Messias, Jesus, Christus – meinte er: „Um solche Fragen zu beantworten, muss man Pfarrer werden. Möchtest du das?“

Ich mochte das nicht. (Es ist wohl wahr, hätte ich diesen Wunsch gehabt und wäre ihm nachgegangen: mein Leben wäre glänzend verlaufen. Ich hätte jegliche mögliche und unmögliche Unterstützung seitens meines Vaters gekriegt, er wäre mit mir gestorben, in die Hölle gefahren, strahlend auferstanden. Als deutlich wurde, ich war heftig dreizehn, dass ich mit meinem Leben eigentlich gar nichts anfangen wollte, höchstens Gedichte schreiben und Jazzgitarre spielen, wendete mein Vater sich von mir ab. „Gott kann dich nicht gebrauchen“, sagte er. Und Jahre später meinte er: „Du bist leider ein Künstler.)

Die Welt meines Vaters war bis in die kleinsten Details bekannt, überschaubar, bestimmt... Seine Geliebte, die meine Mutter war, flatterte wie ein naiver Schmetterling über alle Zäune hinweg, sie meinte nicht einmal, dass es die Beschränkungen nicht gäbe, sondern sie flatterte einfach ohne irgendetwas zu bemerken umher. Sie wurde jedoch hundert Mal, tausend Mal, zehntausend Mal eingefangen, und am Ende waren ihre dünnhäutigen Flügel kaputt. Sie saß in ihrem Wintergarten, neben ihrem blühenden Oleander, trank Tee und fragte: „Sammy, warum bin ich so müde?“ Und ich sagte: „Weil Du neun Kinder zur Welt gebracht hast“.

Meine Mutter... Ja, meine Mutter... In Arnhem war sie noch ein Schmetterling, ein duftig-farbig-unschuldiger Du-willst-mich-haben-kannst-mich-nicht-haben. Wenn ich abends stundenlang auf der Treppe saß und auf sie wartete – ich sehnte mich immer wieder nach Versöhnung – kam sie meistens nicht, und ich wusste: „Sie ist längst nicht mehr bei uns, sie hat sich in einen Nachtschmetterling verwandelt, ist in Mondlandschaften unterwegs, die ich nicht kennen darf, die mir verschlossen sind.“

Meine Mutter... Wir waren in Dieren, einer Kleinstadt bei Arnhem, und warteten am Bahnhof auf den Bus. Sie war wohl wieder schwanger. Sie stand neben mir, sagte: „Sammy, ich bin wieder so müde“, und sank zur Boden, ihre Flügel konnten sie nicht mehr tragen. Dort lag sie ausgestreckt, bewegungslos, wie tot – ich meinte tatsächlich, sie wäre tot – und mit meinem Adlerblick schaute ich auf ihren Körper weit da unten und stellte fest: „Irgendwie gehört sie nicht zu mir, weil sie immer wieder auf einmal verschwindet“.

Es war nicht schwierig meine fremde Mutter zu lieben. Es war auch gar nicht schwierig, ihr zu verzeihen. Irgendwie war sie bereits von Anfang an meine Tochter, ich meine: Die Verantwortung lag bei mir, nicht weil sie das von mir verlangte, sondern weil ich es so wollte. Sie konnte nichts dafür, dass sie ohne je gefragt worden zu sein, in einer Verschwörung eingebunden war, die eher meine Verschwörung war. Schmetterlinge und Verschwörungen gehören nicht zusammen. (Schmetterlinge wollen keine Geschichte schreiben.)

Vor fünf Jahren ist sie gestorben. Genau am Tag ihrer Beerdigung (in Utrecht) fing mein Herz an, sich zu wehren. Es konnte, wollte, durfte nicht mehr. Die medizinische Sprache sagt es so: Ein Herzinfarkt bahnte sich an, der Dichter in mir meint: Ich trauerte dem Schmetterling nach, trauerte allem nach, was nicht anders geht, als sich vergeblich wie ein Schmetterling zu verhalten.

06.08.2011

Samuel ist unterwegs (6). Wir wollten nicht warten

Ja, die Zeit war reif. Warten war nicht mehr möglich. Worauf sollte ich warten? Wenn man bereits unten angekommen ist, wo Wendung und Entscheidung nicht länger transparent sind und der Zug des Lebens, der Verwandlung, der Geschichte spürbar ist, kann man ohne Orientierung nicht mehr warten. Die Wahl zur zweiten Wahl ist keine Wahl.

Die Menschen, die meine unmittelbaren Menschen waren, hatten eine Spur ostwärts und am Ende dieser Spur ein Loch bis ins Innere der Erde hinterlassen, das mich anzog. Als ich auf die dunkle Stelle schaute, drohte ich mich zu verlieren, als ob etwas mich dahin verführen, mich dahin verschwinden lassen wollte – wäre ich dahin gegangen, hätte ich mich aufgeben müssen. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, mich in meinen Sehnsüchten, Vorsätzen und Entscheidungen aufrecht zu erhalten.

Ich wendete meinen Blick ab. Nein, ich spreche heute nicht von der Trauer, die bei mir einzog, nicht von diesem Schatten, die mich seitdem begleitet, von dieser zum Nachsterben geneigten Gestalt neben mit, dieser braun-gelb-roten Herbstfigur, die den Dichter in mir weckte. Mit dem Abwenden meines Blickes – war dies ein Verrat? – rettete ich mich, traf ich eine Wahl, die mich betraf, mich bestimmte, mich neu erzeugte. In meinen Augenwinkeln ist das Loch allerdings noch immer da, muss meinen Kopf nur ein wenig wenden, um es zu sehen.

Mit Elegien und Requien bin ich vertraut. Nein, ich möchte heute nicht von der Trauer sprechen, weil sie mir viel bedeutet – ohne sie, so meine ich manchmal, gibt es überhaupt keine Bedeutungen, keine Wahrzeichen, keinen Sinn. Die Trauer in mir ist wie eine alte Landschaft, in der mir die Pfade, Quellen, Kapellen, Hügel und Kreuzungen bekannt sind. Nur die Gesamtheit der Landschaft ist mir eine Frage, die Einzelheiten sind mir fraglos nahe. Gilt es heute nicht, mich von dieser Landschaft zu verabschieden?

Damals wendete ich meinen Blick ab und sah den Fluss. Und über dem Fluss schien es Träume zu geben, Wolken-voller-Bilder, Wolken-voller-Beziehungen, Wolken-voller-Vorhaben, die sich in einem Gegenstrom über die breiten und ruhigen Wellen Richtung Südwesten hin bewegten, wie schwer beladene Schiffe, die andocken wollen. Die Ufer des Flusses waren jedoch leer und verlassen, ohne Ohren und Augen, hier und da standen großen Gebäude und Brücken, die kaputt waren, Häuser ohne spiegelnde Fenster. Und mir war klar: Die Träume gehörten zu einer ganzen Generation von Menschen, die nicht warten wollten.

Wir wollten nicht warten. In den Wolken-voller-Bilder war von rechts nach links ein Ereignis eingeschrieben, das stattgefunden hatte, als wir nicht mehr so ganz oben waren, als wir die Nähe des Lebens in Raum und Zeit bereits spürten. Eine leuchtende Gestalt, die sich in der Mitte des bewegenden und webenden Zusammenseins zahlreicher Wesen aufhielt, wurde auf einmal verdunkelt, ich empfand es so, als ob eine Sonne verdeckt wurde. Irgendwie spürten alle Wesen, dass mit der Verdunkelung ein Opfer verbunden war, ein Verzicht der leuchtenden Gestalt gerade auf seine strahlende Kraft und seine tragende Macht. Was Kern und Mitte war, wurde aufgegeben, wurde abgegeben, wurde zersplittert.

Und an der Stelle der Sonne erschien ein schwarzes Kreuz, das neue Koordinaten kreierte, neue Richtungen öffnete, sich bin ins Unendliche ausdehnte, und sich in allen Erscheinungen zu wiederholen schien, alles zum Kreuz machte. In dieser Räumlichkeit des Kreuzes – ich kann es nicht beschreiben: ein Kreuz als Raum – wurde alles auf einmal in größere oder kleinere Kreuze verwandelt, nicht übersichtlich geordnet (wie auf den militärischen Friedhöfen in der Normandie), sondern wirr mäandernd durcheinander (wie in einem Tanz).

Das große Kreuz ging in die Diaspora. Es setzte nicht mehr auf Kern und Mitte, sondern auf Umkreis und Peripherie. Es war bereit sich zu verlieren, um Einzelheiten und Nebensachen groß zu machen, um Tod und Auferstehung in allen Ecken des Lebens wirken zu lassen, um Wink und Wendung in jedem Detail zu ermöglichen. Und wir alle wussten irgendwie: Die Verwandlung konnte nur da unten vollendet werden, konnte nur in Raum und Zeit gelingen, nur dort, wo der Abgrund sich öffnet, und das große Schweben gelernt werden muss.

Und als ich auf das kleine Kreuz schaute, das sich in mir aufgerichtet hatte, traf ich meine zweite Wahl. Ich schaute wieder nach unten und sah einen Soldaten in Indonesien, der für seine Geliebte in Holland verzweifelte Tagebücher schrieb. Er war, ohne es zu wissen, unterwegs zu mir. Und seine Geliebte wurde dann meine Mutter.