19.05.2012

Gemeinschaft feiern. Über eine Party in einem Kinderhaus

Es ist Donnerstag, früh, Himmelfahrt. Ich sitze auf der Terrasse unserer Wohnung in Köln, die Sonne scheint, die Pfingstrosen im Garten neigen sich dunkelrot und voll zur Erde, die Vögel „twittern“, die vorbeifahrenden Züge geleiten meine Gedanken nach Bonn, Gerolstein und Frankfurt... Die Welt ist heute weit und offen, jedoch auch klein und vertraut.

In der Welt bin ich bei mir. Was mich heute vor allem bewegt, sind zwei Gegebenheiten. Erstens ist da die überwältigende Tatsache, dass ich vor einer Woche Vater geworden bin. Unsere Tochter Ilana ist noch winzig klein, sie bestimmt jedoch rund um die Uhr das kleine-große Leben zwischen den Pfingstrosen, den Vögeln und den Zügen. Es scheint mir so zu sein, als ob sie bereits eine Ewigkeit bei uns ist. Gab es eigentlich eine Zeit, in der sie noch nicht da war?

Und dann ist da zweitens die Tatsache, dass nächsten Samstag das Kinderhaus in Aachen so richtig feiern wird. Ich kann leider nicht dabei sein, weil ich meine Lebensgefährtin Vanda nicht mit unserer Tochter und den vielen Besuchern (Samstag kommt eine Truppe aus Holland) alleine lassen will, weil ich die Begrüßungen nicht verpassen möchte. Eigentlich würde man am Himmelfahrtstag meinen, man könnte überall gleichzeitig sein, leider erlaubt mir mein Körper dies jedoch nicht.

Dass am Samstag im Kinderhaus in der Mühle in Aachen so richtig gefeiert wird, hat gute Gründe. Wir haben über Jahre und Jahre – ja, gab es eigentlich eine Zeit ohne diese Bemühungen? – an einer Verwandlung gearbeitet, die äußerlich gesprochen vielleicht eher trivial aussieht, innerlich jedoch eine teure und stolze Leistung bedeutet. Es gab einmal eine Zeit, in der das Kinderhaus – mit etwa zwölf Kindern und Jugendlichen – von zwei Personen, Ruthild und Martin Soltau, die sich mit ihren eigenen vier Kindern für die Zukunft aller Beteiligten verantwortlich gemacht haben, getragen wurde. Die beiden waren über eine lange Zeit die zwei tragenden Säulen der Gemeinschaft.

Und am Samstag wird der Umstand gefeiert, dass diese Verantwortung nun von einem Team übernommen worden ist. Das soziale Gebäude des Kinderhauses wird jetzt von einem Kreis von Säulen getragen, einer Art Stonehenge, das in einer vielschichtigen menschlichen Zusammenstellung nun ihre Orientierung und Richtung finden will. Diese Verwandlung ist möglich, weil sie nicht nur gewollt, sondern auch bewusst Schritt für Schritt vollzogen wurde. Alle Beteiligten haben an diesem Vorgang mitgearbeitet - und vor allem auch an sich selber gearbeitet.

Die innerliche Verantwortung für Kinder und Jugendliche zu ergreifen, ist ein großes Ding. Als Begleiter dieses Prozesses habe ich über die Jahre hautnah erleben dürfen, wie sehr die Schicksale der Einzelnen – der Kinder und Erwachsenen – miteinander verflochten sind, wie sehr die Beziehungen immer wieder große und wesentliche Fragen über das Leben erwecken, über „mein“ Leben, über die dringenden Themen in der Gesellschaft. (Wer die Postmoderne in all seinen Aspekten kennen lernen will, möge sich sofort als Mitarbeiter in einem Kinderhaus bewerben...)

Ich möchte vor allen Martin und Ruthild, Ralf, Andrea und Willy an dieser Stelle meine Achtung zollen, nicht weil sie kompetent und fleißig sind (sind sie jedoch!), nicht weil sie zuverlässig und treu sind (sind sie auch!), sondern weil sie sich uneingeschränkt auf das Wesen der Verwandlung eingelassen haben. Sie haben sich selber immer wieder in Frage gestellt, haben ihre eigene Haltung kritisch angeschaut, sich von Freude und Schmerzen klug und mutig leiten lassen.

Offiziell hat Ralf Gundlach die Leitung des Kinderhauses in seine Hände genommen, und wird dabei von Andrea, Ruthild und Martin, sowie dem ganzen Team unterstützt. Ralf ist ein Mensch der Weite, der Nähe, des Vertrauens, des Dialogischen. Er hört auf die Bedürfnisse der Kinder und der Mitarbeiter, versucht Fähigkeiten zu erwecken, hält inne wenn nötig... Und vor allem: Wenn er in die Küche tritt und „Hallo“ sagt, ist er präsent.

Die verborgene Regie der Verwandlung – haben wir sie bemerkt? Ja, wir haben sie wahrgenommen! – lag in Wahrheit bei den Kindern und Jugendlichen. Wir wissen, dass für sie das Kinderhaus eine notwendige Alternative ist – wie gerne würden sie ganz „normal“ in einer Familie aufwachsen, mit Müttern und Vätern die im Stande sind, sie zu betreuen, zu versorgen, zu begleiten! Wir wissen allerdings auch, dass sie ihr Schicksal akzeptieren, annehmen, ja uneingeschränkt leben... Liegt nicht die Größe der Kinder gerade darin, dass sie das Leben nehmen wie es ist, jeden Tag wieder?

Heute ist Himmelfahrt, bald wird es Pfingsten werden. Aus den ehrlichen Bemühungen der abgesonderten Einzelnen entsteht durch das Pfingstfest eine Weite und Nähe der Gemeinschaft, das freudige und vielleicht auch ein bisschen wirre Teilen miteinander, wonach wir uns alle sehnen. Am Samstag feiern die Kinder und Erwachsenen des Kinderhauses „Gemeinschaft“, ich werde leider nicht dabei sein. Aber bereits heute spüre ich, wie sehr ich mich von der Wahrhaftigkeit des Bemühens getragen fühle.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Ruthild Soltau hat gesagt…

Vielen Dank, Dir, lieber Jelle!
Ralf sagte gestern, dass wir ohne Dich den Umstrukturierungsprozess nicht geschafft hätten! Das ist auch meine Einschätzung. Danke für Deine Supervision! Danke für die Arbeit einer gemeinsamen Fortbildung oder besser Forschung, die wir begonnen haben!
Herzliche Grüße an die ganze Familie, auch die aus Holland
Ruthild

Andrea Ludwig hat gesagt…

Lieber Jelle:
Groß, ausdauernd, respektvoll, liebenswürdig, ehrlich, mitfühlend,
aufbauend- nur ein paar Adjektive mit
denen man deine tolle Arbeit als Supervisor in all der Zeit in der wir
dich alle brauchten beschreiben kann.
Danke für alles, herzlichst
Andrea