24.06.2012

Die Selbstregulierung unserer Tochter. Über das Schreien der Kleinen

Sie hat geschrien und geschrien. Stundenlang. Ihr Schreien hat nichts daran geändert, dass sie süß ist. Auch wenn sie zornig war – ihr Köpfchen rot, ihr kleiner Mund Ausdruck des äußersten Wollens – blieb sie das schönste & liebste & teuerste Mädchen auf der Welt. Wir wussten nur nicht, was los war und waren deswegen verzweifelt und ratlos. In der weiten Welt gab es nur noch eine dringende Frage, die uns wirklich interessierte, nämlich: Wie kann sie Ruhe finden?

Wenn Säuglinge schreien, schreit alles. Sie schreien mit Händen und Füßen, mit geballten Fäustchen, eben die Haare auf dem Köpfchen scheinen voll mitzumachen, sie bewegen sich zwar nicht, drücken jedoch schweigend einen Weltzorn aus und sehen wie die Friseur einer gewaltigen Kaiserin aus. Die ganz Kleinen sind reiner Wille – vor allem durch ihr Schreien wird das unverkennbar ersichtlich.

Und in uns schreit alles mit. Ich erzähle mal von mir. Wenn sie schreiend in meinen Armen liegt, kann ich mich von ihrer Verzweiflung nicht abgrenzen, die zwingenden Töne aus ihrem süßen Mund erreichen sofort meine Knochen, gehen bis in den dunkelsten Ecken meiner Seele, wühlen mich auf wie ein absolutes Gedicht von Dylan Thomas („Do not go gentle into that good night/ rage, rage against the dying of the light“).

Vielleicht – ja: vielleicht! – gibt es eine Stelle, die von diesem Schreien frei bleibt, die sich irgendwie souverän handhaben kann, die sozusagen aufmerksam dabei bleibt, ohne sich in den Schrecken zu verlieren. Ich meine sie manchmal in dem Blick meiner kleinen Tochter gefunden zu haben, in ihren Augen also, die beides machen: Sie schreien mit (und wie!) und sie schauen gleichzeitig auf das Geschehen wie aus einer höheren Warte. Etwas in dem Blick wird vom Schreien zwar berührt, jedoch nicht verführt.

Und seltsam, nun ja vielleicht – vielleicht! – spinne ich nur. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der ferne & nahe Beobachter in meiner Tochter nicht nur auf das Schreien schaut, sondern auch auf mich, er sucht mich auf, hofft unbedingt darauf, dass Kontakt entsteht, dass wir sozusagen auf einer hohen & stillen & heiligen Ebene „zusammenarbeiten“, vielleicht besser gesagt: Uns einfach zusammen tun. (Johann Sebastian Bach: „Wir setzten uns mit Tränen nieder.“) Und wenn ich diesen souveränen Blick in mir zulasse, passiert ein Wunder: Ich finde die Ruhe, die meine Tochter beruhigt...

Die erste Diagnose lautete: Dreimonatskoliken. Damit sind Blähungen gemeint, die die ersten Monate eines neuen Lebens so richtig versauen können. Mittlerweile hat diese Diagnose sich jedoch bei unserer Tochter als falsch erwiesen, eher ist wahrscheinlich, dass umgekehrt die Blähungen durch das Schreien entstehen. Ein relativ neuer Begriff im medizinischen Denken trifft vielleicht – ja, vielleicht, was wissen wir eigentlich sicher? – besser zu, er nennt sich „Selbstregulation“.

Und damit ist gemeint, dass unsere Tochter damit beschäftigt ist, ihren kleinen & schönen & zerbrechlichen Körper (oder müsste ich gerade sagen: ihren weisen & starken Körper?) fürs irdische Leben zurechtzurücken. Sie reguliert ihren Körper selbst, ist dabei, das Eine und das Andere noch einzurichten, was offenbar auch Seiten hat, die weniger angenehm sind. Und das Schreien – so könnte es sein – hängt einerseits damit zusammen, dass die Arbeit unangenehm ist, ruft andererseits aber die „höheren“ Kräfte herbei, die dafür gebraucht werden.

Wir beide, Vater und Mutter, sind durch das Schreien so richtig an unsere Grenzen geführt worden. Es gab Momente, da lagen die Nerven blank. Es sieht im Moment so aus, dass mit Hilfe von Osteopathen, Kinderärzten und Hebammen, Medikamenten und Ritualen, Spaziergängen im „Slendang“ und interessanten „Tricks“ (darüber vielleicht ein nächstes Mal mehr) die Lage sich ein bisschen beruhigt hat. Das Schreien ist nicht ganz vorbei (muss auch nicht), die Verzweiflung ist jedoch mehr als halbwegs verschwunden.

Auf der Erde anzukommen, ist ein großes Ding. Unsere Tochter Ilana hat es mal wieder gezeigt: Auf der Erde voll präsent und geistig tätig zu sein, ist keine Selbstverständlichkeit. Ganz viel Selbstregulation ist von Nöten, und ganz viel Liebe, die offenbar in unseren Knochen schlummert und geweckt werden muss. Und ganz sicher ist wahr: Ohne ein praktisches Wissen vom Leben läuft überhaupt nichts.

6 Kommentare:

Michel Gastkemper hat gesagt…

Al eens wikkelen (inbakeren) geprobeerd?

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michel, ja, haben wir. Es gehört zu den erfolgreichen "Tricks", wovon ich gesprochen habe. Herzlich, Jelle

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Übrigens: auf Deutsch spricht man von "pucken". J.

Caroly hat gesagt…

Laat dat nou ook mijn eerste gedachte zijn geweest...Ook bleef jouw dichtregel Du schreist und schreist op de een of andere manier steeds in mijn hoofd terugkeren. Ik zal aan jullie denken. Wie weet.

Anonym hat gesagt…

Über das Schreien hinaus, ist deine Beschreibung des Blicks, der Augen deiner Tochter mir das Wichtigste in deiner Erzählung

Dieses was du dabei empfindest und denkst, wünschst.

Diese Blicke und Erlebnisse finde ich bei Kindern im Kindergarten. Besonders wenn sie irgendwie mit der Welt schiefliegen und dabei wie gefangen sind.
Sobald ich meine Gedanken dahin bewege sie zu suchen , warten , langsam, Zeit lassen, jedoch mit der Gewißheit das sie kommen und das sie irgendwie wissend sind, dann ändern sich die Augen und nach und nach auch das Gesicht, die Hautfarbe.
Sie fassen Vertauen und können auf einmal so ganz anders erscheinen wie vorher.
Damit sind noch längst nicht alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, aber vieles und manches verändert sich wie von selbst.
Und ich selber bin mit einmal ganz nah dabei, da ist der Duft des Geheimnis, von dem Köhler sprach, das ist wichtig. Denn hier, genau hier offenbart sich das Neue.
Leise sprechend, summend, will ins Gespräch kommen... Aber anders als bisher. Denn es ist leicht verletzlich ist, aber stark, , mutig und von unglaublicher Liebe begleiete,..wie umfangen.
Das ist befreiend für die Kinder, Eltern und auch mich.
Auch wenn der Rest der Welt meint es käme auf ganz andere Dinge an um als Mensch Geltung zu haben. Hier verändert es sich, unmittelbar.
Herzlich, b.b.

mundanomaniac hat gesagt…

" jedoch mit der Gewissheit das sie kommen und das sie irgendwie wissend sind, dann ändern sich die Augen und nach und nach auch das Gesicht, die Hautfarbe."

Das - hat sich mir nicht erschlossen, als ich von 1979 -1980 im Kinderhaus Erzieher war.

Aber ich wollte das sehen, genau das, aber ich war selber noch nicht aufgewacht, hatte noch nicht das -timing.

Jetzt - sehe ich es in jedem Kind.

Mundanomaniac