14.10.2012

Eine alte Taube im Garten

Herbst, Samstagmorgen, der Wind spricht leise in den Bäumen. Nebenan öffnet eine Nachbarin ein Fenster, das Geräusch ist mir wohl vertraut, es ist jeden Morgen da, heute klingt es allerdings bescheiden und still. Die Wäsche steht zum Trocknen auf dem Innenhof, regungslos, gelassen, fast steif gefroren. Und ja, die Mülltonnen, sie schweigen dazu.

Und sogar die Züge – sie fahren im Minutentakt an meinem Garten vorbei – scheinen heute inne halten zu wollen. Komplett still zu bleiben schaffen sie nicht, es sind halt Züge, irgendetwas in der Luft dämmt jedoch die mechanischen Klänge, umarmt das, was übergriffig sein könnte, leitet es um, in eine Tiefe, in ein unterirdisches Ohr.

Etwas Mächtiges hört heute früh zu. Nun ist es mit dem Hören so, dass immer eine Hoheit dahinter steckt, „etwas“ hört zu, hören ohne eine Wesenheit gibt es nicht, Ohren haben immer einen bestimmten Träger. Mir ist klar, dass die Hoheit, die gerade zuhört, groß sein muss, vielleicht heißt sie Köln, vielleicht Rheinland, vielleicht hat sie einen Namen, den ich nicht kenne. Ich spüre jedoch, dass sie da ist, und auch die Vögel merken ihre Präsenz, sie sitzen auf den Ästen und Dachrinnen und warten ab.

Kleine Ohren können in großen Ohren aufgehen, mit den Elstern und Raben und Amseln höre ich also zu, versuche mit meinen Ohren das große Ohr zu finden, das gerade so mächtig zuhört. Mein Hören fügt sich in „etwas“ ein, in ein Hören, das sich zwar von mir nicht direkt identifizieren lässt, jedoch alles andere als anonym ist. Ich merke allerdings, dass die Hoheit sich nicht versehentlich verbirgt, ganz im Gegenteil, sie möchte bei ihrem wahren Namen genannt werden.

Und dann geschieht etwas Unwahrscheinliches. Neben mir, keine zwei Meter von mir entfernt, landet ganz still, sanft und leise, fast geräuschlos, eine Taube. Und sie schaut mich an. Sie ist groß und offenbar alt, sie wirkt erschöpft, als könne sie auf der Stelle sterben... Ihr oranger Schnabel leuchtet im Morgenlicht hell auf, wie ein Schmuckstück aus einer alten arabischen Geschichte. Sie wackelt auf ihren Füßen, schaut mich nochmals an und fängt dann holprig an, etwas Essbares im Gras zu suchen.

Und sie sagt mir: Der Name der bedachtsam zuhörenden Hoheit heißt Frieden. Und auf einmal ist mir klar, welche dringend-stille Frage mich aus der leisen Sprache des Windes in den Bäumen, aus der hängenden Wäsche auf dem Hof, aus den gedämmten mechanischen Geräuschen der Züge versucht zu erreichen. Die Frage lautet: Gibt es in Dir Platz für mich, für die Hoheit namens Frieden?

Ich schreibe in Frieden.

Und als mein Schreiben friedvoll vollendet ist, fängt der Wind an lauter zu sprechen, die Raben nehmen ihren üblichen Diskurs wieder auf, und ja: Hunderte von Gänsen ziehen laut kreischend hoch über mir her. Und die alte Taube ist auf einmal verschwunden. Der Friede ist mächtig, man braucht ihm nur zu lauschen und ihn in sich aufzunehmen.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, das ist schön. Ich kenne diese Stille von der Du schreibst - ja, ich habe sie aber noch nicht so bewusst als Frieden bezeichnet. Eher als etwas Komisches & Langweiliges & Schlafendes & Leeres & traurig Machendes. Aber vermutlich liegt es nicht an der Stille, dass ich das so empfinde, sondern eher an den plötzlich fehlenden Geräuschen. Ich danke Dir für diesen Impuls und freue mich auf eine beginnende Freundschaft mit meinem Frieden.
Herzliche Grüße, Birgitt

Ruthild hat gesagt…

Lieber Jelle, danke!

Gestern Vormittag saß ich am Schreibtisch, um einen Bericht über ein Kind für das Jugendamt zu schreiben. Ich mag das: Dieses Sinnen über ein Kind und das Bemühen, so zu schreiben, dass das Kind einverstanden ist. Beim Nachsinnen wanderten meine Blicke zum großen Ahornbaum, dessen Blätter nun nach und nach auf das Schuppendach rieseln. Auf einmal kamen ganz viele Tauben angeflogen und spazierten in einer langen Reihe gemächlich über das Schuppendach. Ich dachte noch: so viele Tauben!....
Aber doch! Es gibt so viel Not in der Welt!

Friedensgebet:

Sonnenwesen, Christusheld, Schicke Deine Kraft
Zu uns auf die Erde,
Um zum Guten zu wenden
Die Kräfte des Bösen
In der Zeit der Not.
Lasse werden, o Herr,
Die Geschehnisse dieser Welt
Zukunftsfördernde Taten.
Wende die Lanze des Bösen
von ihrem Ziel.
Gib der Welt Frieden.

Martin hat gesagt…

Die wahre Sprache Gottes ist die Stille - alles Andere ist eine schlechte Übersetzung.
Albert Einstein ?