31.07.2012

Über "Meta" hinaus. (1) Die unendliche Geschichte der Geschichte


Unsere Geschichte ist weder verbürgt noch bewiesen, trotzdem wichtig geworden, wie eine rührende Erzählung, die mehr aussagt als manche harten Tatsachen des Lebens. Sie ist unüberschaubar lang, ich könnte nicht sagen, wo ihr Anfang liegt, und auch ein klares Ende hat sie nicht, wird sie wahrscheinlich nie haben, weil das Erfinden von neuen Bedeutungen ihre Aufgabe ist.


Sie hört unterwegs manchmal auf, wird unterbrochen und zögert in dunklen Ecken, tritt unerwartet wieder ans Tageslicht, und entfaltet lebendige Bilder aus einer Vergangenheit, die offenbar höchst aktuell sind. Mit diesen Bildern sind wir manchmal alleine, wir schauen einander in die Augen und staunen.

Sie besteht aus Fragmenten, losen Absätzen, Skizzen und Entwürfen, ihre Eckdaten befinden sich in großen zeitlichen Rahmen, ja, in Epochen die Fenster sind, die nichts einschränken oder festlegen, sondern den Blick frei machen für Weites und Breites, für Schmales und Enges. Richtige Worte für die Fenster gibt es eigentlich nicht, in der geschriebenen Geschichte heißen sie holprig das alte Persien & die Antike & das Reich der Wikinger & die Renaissance & das Dritte Reich.

Wir sind von der langen Geschichte umschlungen, wie die Fische vom Rheinwasser, werden von ihr getragen, weiter geführt, doch manchmal wenden wir uns auf einmal um, gerade wenn wir Ursprünge suchen, und schwimmen freudig gegen den Strom, werden am Widerstand wach, fühlen uns wie ganz kleine Kinder, im Leben strampelnd, sprachlos auch... Sich nur mitführen zu lassen, bedeutet zu sterben (was eine schöne Angelegenheit ist); sich zu wenden, bedeutet geboren zu werden (was vielleicht noch schöner ist).

Unsere Geschichte ist eine Geschichte, hat also eine bewegliche Architektur, kann sich von sich selber höflich und liebevoll distanzieren, beleuchtet sich selber ständig aus anderen Richtungen, richtet Epochen immer wieder neu ein, schmeißt dabei nichts weg, verliert nichts, findet höchstens neue Arten und Weisen des Präsentierens, des Darstellens, des Verstehens. Zu unserer Geschichte haben wir eine Beziehung.

Die Geschichte selber hat eine Geschichte, mit vielen Schichten, an dieser Stelle wird die Geschichte verrückt, undurchdrinlich. Wie wäre eine Geschichte zu benennen, die sich mit sich selber beschäftigt? Nein, eine Meta-Geschichte wollen wir sie nicht nennen, mit Meta sind wir längst fertig, Meta ist in der Geschichte-als-Geschichte bereits lange angekommen, integriert, herzlich aufgenommen, Organ des Verstehen geworden.

Es gibt nur eine Geschichte, sie umfasst die Geschichte der Geschichte, trägt sie wie einen kostbaren Schatz mit. Vielleicht ist sie die wahre Liebesgeschichte?

17.07.2012

Für Mundanomaniac

Du, unbekannter Kerl,
manisch Liebender, Du,
Buchhalter der Schwingung,
der Wendung – von weit,
von breit holst Du dir
die kleinsten Kreise:
scharf zusammen gezogene
Sprachlosigkeit, präzise
Markierungen in Raum
und Zeit. Wie weit, wie breit
ist deine Freiheit? Wo,
hinter den Worten, warten
die Götter auf dich? Wo
steht der große Tisch, vier-
dimensional, mit Flächen,
die recht krumm lachen?
Hört in den kleinen Kreisen
die wilde Bewegung auf?
Führen sie wie Löcher
ins Innere der Erde, dorthin,
wo Tubal Kain schmiedet,
das Eisen ins Feuer legt, es mit
Hammerschlägen zwingt
ein heiliges Schwert zu sein?
Du, dein Wollen ist sprachlos,
wie meines auch, wir wissen
nicht was wir tun, und wir tun,
was wir wissen wollen. Saturn
zieht uns an aus der Ferne,
der Mond flüstert hautnah,
und die Erde, sie wartet,
wartet dunkel und warm
auf dich, auf mich, auf uns,
auf das Werk der Entzündung.

09.07.2012

Die Krise in Europa. Über Abgründe


Bereits in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts fasste der holländische Anthroposoph Willem Zeylmans van Emmichoven die schwierige Frage ins Auge: Wie ist mit den Verschiedenheiten der europäischen Völker umzugehen? Er nahm sich damals vor, eine Psychologie der Völker zu entwickeln und wollte dafür in Den Haag ein Institut gründen. Damit scheiterte er allerdings; er fand zu wenig Leute, die sein Anliegen verstanden.

Zeylmans van Emmichoven wollte in der Gesellschaft ein Gespür dafür wecken, dass die Verschiedenheiten zwischen den europäischen Völkern nicht nur durch die jeweiligen geschichtlichen Eigenheiten und Ereignisse verständlich sind, sondern vor allem auf jeweils berechtigten Perspektiven und Lebenshaltungen beruhen. Sein Freund Herbert Hahn beschrieb übrigens in seinem Buch „Vom Genius Europas“ – ein Klassiker der anthroposophischen Literatur – mit viel Humor die Verhaltensweisen von zwölf der europäischen Völker.

Nun, im Moment sieht es mit dem Verständnis für die Verschiedenheit in Europa leider nicht gut aus. Die Griechen nennt man „faul“, die Spanier „leichtsinnig“, die Italiener „unzuverlässig“, die Franzosen „stolz“, die Deutschen „engstirnig“, die Holländer „kaufmännisch“ - was „geizig“ bedeutet - die Ungarn „gedankenlos“ - womit „dumm“, gemeint ist - und die Belgier „verpennt“. Nur die Schweden, die Norweger und die Finnen scheinen offiziell keine Schatten zu haben, na ja, ein bisschen selbstherrlich und in sich selbst versunken sind sie wohl schon...

Man könnte an dieser Stelle natürlich sagen, dass sich die europäischen Schatten eklatant voneinander unterscheiden. Jedoch sind alle gegenseitigen Vorurteile auf eine bestimmte Frage zurückzuführen, die vor allem in Ländern wie Deutschland, Finnland und den Niederlanden gestellt wird, nämlich: Wie tüchtig wird in den jeweiligen Ländern gespart? Der Umgang mit Geld ist in der Debatte der springende Punkt geworden.

Die Bedeutung des Geldes zu relativieren, ist vergebens. In der politischen Debatte liegt ein Tabu auf der „Anthropologisierung“ der Frage des Geldes, es beruht auf der Tatsache, dass weltweit die Globalisierung als eine rein wirtschaftliche Angelegenheit quasi ohne menschliche Vorlieben, Gepflogenheiten oder Schwächen verstanden wird. Wirtschaft müsste-sollte-dürfte mit den Eigenheiten der Völker nichts zu tun haben, es gibt nur eine Art und Weise wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Die Volkswirtschaften, die relativ viel Geld verdienen, meinen in der Debatte automatisch Recht zu haben.

Mit der Biographie von Europa wird es natürlich irgendwie weiter gehen, allerdings erst dann, wenn die Abgründe in der aktuellen Krise erst recht sichtbar geworden sind. Die Bemühungen Merkels und Schäubles zielen darauf hin, die Fahrt in den Abgrund zu verhindern, was nicht gelingen wird. Uns stehen noch spannende Zeiten bevor, und die Entscheidungen werden nicht in Brüssel, Paris und Berlin, sondern in den Leben der einzelnen europäischen Bürger getroffen. Sogar die Hoffnung, dass die Krise den Einzelnen nicht erreichen wird, ist abgründig.

02.07.2012

Lebensbuchführung. Über die Schönheit von Texten

Texte sind sonderbare Erscheinungen. Es ist noch nicht so lange her, dass sie erfunden wurden, die ältesten Texte sind etwa sechstausend Jahre alt. Die Sumerer haben damals in Uruk damit begonnen, die bereits mündlich existierenden Bezeichnungen (die „Namen“) von Gegenständen und Wesen mit grafischen Symbolen zu verbinden, und so wurde es möglich, eine Art Buchführung des Lebens zu handhaben. Dieser Akt des Verbindens wurde in den Tempeln gelehrt – was wir heute „schreiben“ nennen, war damals eine heilige Angelegenheit.

Die Heiligkeit des Schreibens beruht auf der Tatsache, dass Texte gerade unheilig sind. In Texten wird die göttliche oder geistige oder seelische Ordnung der Dinge auf eine Ebene gebracht, wo sie als göttliche oder geistige oder seelische Wirkung nicht überleben kann. Texte verzerren per definitionem, um in einem Text etwas Spezifisches hervorzuheben, muss ganz viel missachtet, die Fülle des Lebens verstellt werden.

Große Dichter und Schriftsteller – die Meister der Texte – wussten das auch. Beispielsweise Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf und Dylan Thomas waren sich bewusst, dass ihre Texte prinzipiell daneben waren. Mit dem Akt des Schreibens geht – auch wenn man es nicht fühlen will – eine Scham einher. Die Schulung in den alten Tempeln war deswegen eine moralische, und das Ziel: lernen sich der Scham zu stellen. In modernen Zeiten haben sensitive Intellektualität (Rilke, Woolf) oder Alkohol (Thomas) oder einfach Ignoranz diese Aufgabe übernommen.

Texte sind paradoxe Erscheinungen. Der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Saul Bellow erzählte mir vor Jahren, dass er nach der Veröffentlichung eines neuen Romans immer in eine Krise gelangte. Das frisch gedruckte Buch spiegelte ihm gerade das, was er nicht geschafft hatte. Was literarisch geleistet wird, so meinte er, tut im Nachhinein immer weh, und gerade darin liegt die Wirkung der Schönheit.

Um etwas zu sagen, muss man schweigen, was nicht heißt, dass man schweigen sollte – ohne Aussagen gibt es kein Schweigen. Texte die alles sagen wollen, sind keine Texte, sie sagen nichts. Worte bedeuten immer mehr, man könnte auch sagen: immer weniger, als in einer konkreten Aussage bemerkbar ist. Wenn ich „ja“ sage, evoziere ich gewollt oder ungewollt die Möglichkeit „nein“ zu sagen.