24.07.2014

-+ Mut zu Lücken. In Zeit und Raum


Wenn ich auf die Straßenbahn warte oder beim Friseur in der Schlange sitze und nicht so ganz genau weiß, was ich tun soll (einem Gedanken nachgehen, um mich herum schauen, meditieren, träumen?) befinde ich mich in einer begrenzten Lücke der Zeit. Ich bin in einem Zustand der Unbestimmtheit, schwebe quasi zwischen Nichts und Allem, kann mich nicht zu einer (inneren oder äußeren) Tätigkeit entscheiden. Ich befinde mich gerade irgendwo, wo ich mich gerade nicht befinde.

Mit Lücken im Raum ist es nicht anders. In jeder Großstadt gibt es räumliche Lücken, die dadurch auffallen, dass sie „leer“ sind. Manche von diesen Lücken (zum Beispiel „Baulücken“) sind nur kurzfristig leer, wir gehen an ihnen vorbei und wissen, dass sie demnächst wieder gefüllt werden. Direkt neben meiner Wohnung in Köln gibt es so eine Baustelle: In der Leere arbeiten bereits Bagger, um einen Neubau vorzubereiten: 200 Wohnungen für Studenten sollen dort entstehen.

Es gibt allerdings auch ungeplante Lücken. Am Anfang der Beethovenstraße liegt zum Beispiel ein „Platz“, der jedoch kein „Platz“ ist, sondern eine unbestimmte „Fläche“, die einfach übrig geblieben ist; sie hat keine Identität, erinnert an ein Puzzlestück, das irgendwann einmal definitiv in einen Staubsauger verschwunden ist. Wenn man sich auf dieser Fläche aufhält, macht man das nur, um sich eine Zigarette anzuzünden.

An solchen Orten gehen wir meistens gedankenlos vorbei. An solchen Stellen herrscht das Gesetz der Unbestimmtheit: Dort wo sich in der Vergangenheit niemand etwas Bestimmtes ausgedacht hat, gibt es NICHTS, das heißt: Dort brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Oder anders gesagt: Wo nichts ist, dürfen wir schlafen. Hat man jedoch einmal seine Augen für solche Orte geöffnet, stellt man betroffen fest: Auch sie haben das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Sie sind so ein bisschen wie Penner: Sie werden nicht beachtet, haben allerdings viel zu erzählen.

Um etwas mit Lücken – im Raum und in der Zeit – anfangen zu können, werden Gedanken gebraucht, die noch nicht gedacht wurden. Eine einfühlsame Bildhauerin könnte sich zum Beispiel auf die unbestimmte Leere am Anfang der Beethovenstraße einlassen und eine Statue realisieren, die der Leere einen Fokus und somit einen mutigen Sinn verleiht. (Ich würde dort eine Pieta hinstellen: eine unbestimmte Mutter mit dem Leichnam ihres gerade jung verstorbenen Sohnes auf dem Schoß.)

Lücken sind Orte, die nicht von den Diktaten der Vergangenheit regiert werden, sie sind geistige „Lichtungen“, Öffnungen nach oben und nach vorne. Um aus dem Schlaf zu erwachen und erst einmal „träumend“ auf solche Lücken zu schauen, ist Mut nötig. Sich ins Nichts zu begeben ohne Nichts zu werden, ist ein souveräner Kraftakt, der gerade nicht von bereits bestehenden Gedanken getragen wird.

Mut zu Lücken also... Über „Lücken“, die dadurch entstehen, dass Menschen sterben und ein „Loch“ hinterlassen, werde ich das nächste Mal schreiben.